Bauers Depeschen


Samstag, 22. Juli 2017, 1820. Depesche

 

DIE SPEZIELLE 378. MONTAGSDEMO

gegen S 21 am 24. Juli - 18 Uhr: bunt und solidarisch.

"Druck in den Kessel - für ein anderes Stuttgart"

Unter Mitwirkung verschiedener Initiativen: Beim Protest gegen S 21 ging es seit jeher um viel mehr als nur um einen Bahnhof.

Wortbeiträge: Jürgen Resch (Deutsche Umwelthilfe), Winfried Wolf (Verkehrsexperte, Buchautor), Sarah Händel (Mehr Demokratie), Angelika Linckh (Robin Wood), Hannes Rockenbauch (Stadtrat), Christian Pätzold (Schauspieler).

Moderation: Sidar Carman (Verdi), Joe Bauer

Musik: Lenkungskreis Jazz, Capella Rebella, Lokomotive



Hört die Signale!

MUSIK ZUM TAG



Die aktuelle StN-Kolumne:



SCHEUKLAPPEN

Um halb acht sitze ich bei meiner Morgenandacht in der großen Bahnhofshalle, dieser mächtigen Kathedrale. Neben mir hat ungefragt eine Taube Platz genommen. Sie putzt sich das Gefieder, schaut mir eine Weile beim Tippen zu – und flattert auf meinen Tisch. Wir verharren Auge in Auge. Es könnte zum Duell um mein Croissant kommen. Aber vielleicht gefällt dem Vogel auch nicht, dass ich mit einem Pappbecher Americano an der Starbucks-Filiale sitze und auf meinem kleinen Rechner herumhacke.

Die Gründer der Konzernkette haben ihre Läden einst nach dem Steuermann aus Melvilles Walfang-Epos „Moby Dick“ getauft: Mr. Starbuck ist der moralische Gegenspieler des unerbittlichen Kapitäns Ahab. Seltsam: Amerikanische Kaffeebuden, Symbole der Globalisierung, erinnern an den Größenwahn der Menschen, sich über die Natur zu erheben.

Im Bahnhof hat die Floskel „Grundrauschen“ ihre Berechtigung. Der Soundtrack dieses vor einem Jahrhundert erbauten Monuments der Eisenbahngeschichte ist schwer zu beschreiben. Babylonisches Stimmengewirr, weniger von Dialogen als vom Handy-Geschnatter bestimmt, erträgliche Rollkoffervibrationen, bedrohliches Taubengurren, vulgärer Autolärm, der durch die Türen dringt.

Ein Mann mit einem großen Instrumentenkoffer auf dem Rücken geht an mir vorbei. Gern würde ich ihn bitten, mir ein paar morgendliche Kontrabassläufe zu spielen. Aber womöglich hat er nur eine automatische Kanone in seinem Koffer.

Ich habe mich in die Bahnhofshalle ­gesetzt, weil ihre Tage in der heutigen Form gezählt sind. 2018 soll das Gebäude geräumt und mit dem Bau eines Hotels im Hauptbahnhof begonnen werden. So gut wie alle uns vertraute Geschäfte werden vorerst verschwinden, auch die Apotheke und die Toilette. Die neue Absteige wird vier Sterne haben, so dass der Mercedes-Stern auf dem Bahnhofsturm nicht länger allein die Macht des Geldes demonstrieren muss.

So ziemlich jede Bemerkung über den Bahnhof, habe ich in den vergangenen Jahren gelernt, wird von den Befürwortern des Captain-Ahab-Projekts Stuttgart 21 als „Nostalgie“ verhöhnt. Auch deshalb, weil sie nicht wahrhaben wollen, dass die Auseinandersetzung mit Geschichte nichts mit Nostalgie, der Verklärung der Vergangenheit, zu tun hat, sondern dem besseren Verständnis der Gegenwart dient.

Am Eingang zum DB-Reisezentrum hängt eine alte Tafel mit den nötigen Fakten zum „Empfangsgebäude des Hauptbahnhofs Stuttgart“: „Inbetriebnahme des süd­lichen Bahnhofsteil am 23. Oktober 1922 – des nördlichen Bahnhofteils am 19. Dezember 1927. Nach schweren Beschädigungen im Zweiten Weltkrieg 1947–1952 wieder aufgebaut“.

Der Beginn des Wiederaufbaus jährt sich heuer also zum 70. Mal, ist aber alles andere als ein Anlass zum Feiern. Aus guten Gründen wurde die Tafel nicht mit den Informationen über die Zerstörungen zu Friedenszeiten ergänzt: Im August 2010 haben die S-21-Planer den Nordflügel des Bahnhofs plattgemacht, Anfang 2012 den Südflügel.

Zwischen diesen Abrissattacken hat das Frankfurter Architekturmuseum 2011 das Gesamtwerk des Hauptbahnhofbaumeisters Paul Bonatz mit einer großen Ausstellung gewürdigt. Ich habe sie damals besucht und in der „Frankfurter Allgemeinen“ über unseren Bahnhof diese Zeilen gelesen: „Zu erkennen, dass die Bauherren von Stuttgart 21 mit diesem einzigartigen Denkmal so ignorant und stumpfsinnig umgehen wie 1928 die fanatischen Funktionalisten, die den Bau als reaktionären Giganten diffamierten, bleibt dem Besucher überlassen. Oder eben nicht – denn nur mit extrem großen Scheuklappen könnte man im Deutschen Architekturmuseum die Verstümmelung des Hauptbahnhofs als Lappalie abtun.“

Diese extrem großen Scheuklappen beim Blick auf die eigene Geschichte sitzen wie angegossen an den Köpfen von Politikern und Bahnmanagern, weshalb der Hotelbau und die geplante Glasverkleidung zur weiteren Zerstörung der historischen Bonatz-Architektur passen wie die Faust aufs Auge. Man nennt diese rigorose Aushöhlung von Baudenkmälern heute „Fassadismus“ – eine zeitgenössische Variante Potemkinscher Dörfer.

Schon als die Entscheidung für Stuttgart 21 gefallen war und die Wegbereiter der Stadtverschandlung zu Gunsten der Immobilienindustrie mit einer peinlichen Party am Prellbock 049 den Baustart feierten, hatte ich nicht mehr den geringsten Zweifel, dass mehr oder weniger das ganze Gebäude dem Profit geopfert wird. Die Vernichtung historischer Substanz hat Tradition in der Stadt. Vielleicht wird man eines Tages im neuen Stadtmuseum ein paar Fotos ausstellen aus der Zeit, als der Bahnhof noch keine Stuttgart-21-Ruine war. Und darüber nachdenken, warum Gedanken an Gleise und Züge, an Ankommen und Weggehen tiefere Spuren bei Menschen hinterlassen als der Blick auf Bagger und Baulöcher, Beton- und Glaskästen.

Morgens im Starbucks, in Gesellschaft aggressiver Tauben, kommen mir die Erinnerungen. An das Bali-Kino im Bahnhof mit den Eddie-Constantin-Filmen, an die schummrige Bali-Bar für erfahrene Nachtstreuner. Beides Orte voller Blues, bis hinein in die achtziger Jahre. Oder die Yesterday-Balladen der namenlosen Mini-Bar im alten Bahnhofshotel, in der Jonny Wirth seit den fünfziger Jahren Dutzende weltberühmter Stars betreut hat, von Ella Fitzgerald bis Kirk Douglas; ihre Autogramme konnte man bis zur Schließung Ende der Neunziger an den Wänden bewundern (heute sind sie in Vitrinen im Intercity Hotel ausgestellt). Alte Geschichten, ich weiß. Sie werden die Menschen nicht trösten, die ihre Arbeitsplätze in den Bahnhofsläden verlieren werden.

Es war eine Idee des Morgengrauens, mich in den Bahnhof zu setzen. Am Starbucks-Tisch in der riesigen Halle kam ich mir vor wie ein kleiner Fisch im Bauch von Moby Dick. Das Bahnhofsleben kann ich vergessen. Der Zug ist abgefahren. Es gilt jetzt wachsam zu sein. Die Scheuklappenfraktion wird nicht ruhen, weitere Flügel der Stadt ins Visier zu nehmen.

 

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