Bauers DepeschenDienstag, 20. März 2018, 1920. DepescheNOTHELFER IN NOT Heute, am Dienstag, moderiere ich die Kundgebung der SozialarbeiterInnen auf dem Stuttgarter Marktplatz: "Nothelfer in Not" - Kampf um faire Löhne und gute Arbeit. Beginn 15 Uhr. *** IN DIESEM JAHR FEIERN WIR 20 JAHRE FLANEURSALON *** Meine allererste Leseshow fand 1998 im Gustav-Siegle-Haus statt 2018: Cannstatt, Hafen. Gustav-Siegle-Haus EINE WICHTIGE VERANSTALTUNG gegen den gefährlichen, immer noch unterschätzten Rechtsruck - an diesem Mittwoch, 21. 3., im Bürgerhaus Feuerbach (am Bahnhof). 19 Uhr. "Kampfplatz Betrieb - Rechtspopulisten und die Betriebsratswahlen 2018" Das Aktionsbündnis Stuttgart gegen Rechts teilt mit: "Nachdem die Rechtspopulisten sich auf der Straße breit machten und in etliche Landesparlamente und den Bundestag eingezogen sind, wollen sie nun ihre Politik der Spaltung in die Betriebe tragen. Im laufenden Betriebsratswahlkampf treten in vielen größeren Betrieben rechte Listen an, die sich in AfD-Manier als die Alternative zum Establishment darstellen, als die Verfechter der Rechte der 'kleinen Leute'. Bei Daimler in der Stuttgarter Region hat sich eine der bekanntesten rechten Zusammenschlüsse gegründet: "Zentrum Automobil" ist ein Verein, der sich als Gewerkschaft darstellt, aber Politik gegen ArbeiterInnen und mithilfe von rechten Netzwerken mobil macht. Wie sie das genau anstellen und was wirklich dahinter steckt, werden uns Kollegen direkt aus den Daimler-Werken berichten und erklären, auch damit wir im Anschluss an den Vortrag über Gegenstrategien diskutieren können." FLANEURSALON LIVE am Donnerstag, 19. April, im Stuttgarter Stadtarchiv in Cannstatt. 19.30 Uhr. Der Klick zum Vorverkauf: RESERVIX Hört die Signale! MUSIK ZUM TAG Die aktuelle StN-Kolumne: UNTER TAGE Wenige Tage nach einer kleinen Expedition in den Untergrund mit Frauen und Männern aus der Welt der bildenden Kunst, des Films und der Architektur stapfe ich durch den tiefen Märzschnee vom Lehenviertel zum Haigst hoch. Mitten im weiten Weiß der Hügel blühen zwischen Mammutbäumen gelbe und blaue Blumen. Krokusse, wie ich später dank gut informierter Zeitgenossen im Internet ermitteln kann. Auf dem Weg die Hänge hoch geht mir die Frage durch den Kopf, ob Wolfgang Frey aus Stuttgart am Ende seines Lebens noch ein Verhältnis zu den Jahreszeiten hatte. Ob er noch natürliches Licht erlebt hat. Wir wissen es nicht. 30 Jahre hat er unter Tage gearbeitet und zum Schluss auch gewohnt. 2012 ist er mit 52 Jahren gestorben. Wolfgang Frey – ich habe schon einmal über ihn berichtet – hat große Teile Stuttgarts als gigantische Miniatur nachgebaut und damit etwas geschaffen, was in seiner Detailbesessenheit alle herkömmlichen Vorstellungen von einer Modelleisenbahn sprengt. Jetzt sah ich erstmals sein Atelier. Etwa zwei Drittel seiner Anlage sind heute unter dem Titel „Stellwerk S“ in Herrenberg zu sehen. Der einheimische Unternehmensberater Rainer Braun hat sie gekauft und in ehemaligen Restauranträumen in der Nagolder Straße eine Ausstellung eingerichtet. Er betrachtet den Schöpfer des Projekts nicht nur als genialen Handwerker, sondern als Künstler und engagiert sich für dessen Anerkennung. Der Besucher dieser alle Rekorde sprengenden Miniatur mit 500 Gebäuden, 250 Loks und 1000 Zügen kann sich ohne gründliche Vorinformationen oder eine Führung nicht ausmalen, was hinter dieser Arbeit steckt. Rainer Braun weiß, dass er noch reichlich Aufklärung und Museumspädagogik leisten muss. Immer wieder stehen Besucher etwas überfordert vor der Anlage, weil sie auf die Technik fahrender Züge fixiert sind und die Geschichte dieser obskuren Skulptur nicht kennen. Auch Kenner von Wolfgang Freys Schaffen wie der Stuttgarter Künstler und Autor Harry Walter (64), aufgewachsen am Nordbahnhof, stehen trotz intensiver Recherchen erst am Anfang ihrer Puzzlearbeit. Noch müssen sie sich damit begnügen, die Motive für das Werk des obsessiven Tüftlers zu interpretieren. Und viele Fragen werden vielleicht nie zu klären sein, weil es im Untergrund nur wenige Zeugen gab. Doch ist die Suche nach Wahrheit nicht das einzige Ziel künstlerischer Expeditionen. Der begrenzte Raum unter der Erde eröffnet unendliche Weiten für Mutmaßungen und Fantasien. Und wie Partisanen gelten auch Künstler oft als Menschen, die die Wirklichkeit nicht akzeptieren. Seit Anfang der achtziger Jahre arbeitet der zunächst nur passionierte HobbyModellbauer Wolfgang Frey für die Bahn im Stuttgarter Hauptstellwerk, bis er seine Stelle krankheitshalber aufgeben muss. Als Nebenerwerb hilft ihm ein Videoverleih. Er führt ein bürgerliches Leben mit Ehefrau und Kindern. „Im Jahr 1978“, schreibt er in einem Fachmagazin, „war es so weit. Nach langem Überlegen entschloss ich mich, meine damalige Modellbahn zu verkaufen und etwas grundlegend Neues zu versuchen (. . .). Irgendwie kam ich auf die Idee, die Kleine Schalterhalle des Stuttgarter Hauptbahnhofs ins Modell umzusetzen, da diese einen einfachen Grundriss aufwies.“ Nicht lange beschäftigt er sich nur mit einfachen Grundrissen. 1982 überlässt ihm die Bahn Räume im zweiten Stock unter der Erde der S-Bahn-Station Schwabstraße. Im Geschoss darunter – wie die Werkstätten erreichbar über die linke Treppe hinunter zur S-Bahn – betreiben Eisenbahnfreunde später ein Fernmeldemuseum; heute ist diese Einrichtung dienstags für Besucher geöffnet. Der Tüftler Frey baut in seinem Schattenreich sogar seinen früheren Arbeitsplatz im Stellwerk nach – im Maßstab 1:1. Mithilfe dieses Kontrollraums erschafft er im Maßstab 1:160 eine eigene Welt. Zugänglich ist sie außer ihm nur wenigen Vertrauten. Es ist eine Stuttgarter Welt, die da im Kunstlicht des Untergrunds entsteht – typisch für diese Stadt, sagt Harry Walter. Wie so viele interessante Dinge existiert sie im Verborgenen, unbeachtet von der Öffentlichkeit. Ihr Schöpfer ist ein handwerklich über die Maßen begabter Eigenbrötler. Seine Präzisionsmanie geht so weit, dass er Grabsteine des Pragfriedhofs für seine Anlage nachbaut. Fast alle Kulissen und Requisiten stellt er selbst her, nur selten greift er auf Industrieprodukte zurück. Seine Miniautos fertigt er von Hand, für seine Bäume findet er in der Natur Pflanzen, die ihm als Material für Kopien dienen. Ungläubig stehen wir vor seinen Reliquien. Wer wie wir, die kleine Gruppe Neugieriger, durch die – normalerweise nicht zugänglichen – Werkstätten und Wohnnischen Wolfgang Freys wandert und die Hinterlassenschaft seiner jahrzehntelangen Schufterei betrachtet, landet unweigerlich in einer Fantasiewelt. Im Kopf läuft ein Film, der alle denkbaren Deutungen provoziert. Und dann sehen wir an dieser Stätte des Unfassbaren einen realen Film, vom Ex-Bewohner der Unterwelt auf VHS-Kassette gespeichert (und inzwischen digitalisiert). Frey hat das Video so nüchtern und sachlich besprochen, als gehe er im Bunker, der vielleicht auch sein Gefängnis war, einer alltäglichen Arbeit nach. Der Künstler Harry Walter und seine Freunde sind dabei, die Geheimnisse des Menschen hinter der Modelleisenbahn, diesem Abbild einer unnachgiebigen Weltschöpfung, zu ergründen. Walter will ein Buch darüber machen, die psychologischen Hintergründe von Freys Leben und die philosophischen Zusammenhänge seiner Monsterarbeit beleuchten. Inzwischen gibt es auch den Traum, die früheren Atelierräume in der U-Ebene, gemietet von Freys Ex-Frau und Rainer Braun, als „Stuttgarter Museum der Obsessionen“ einzurichten. Als Denkmal für eine von Menschenhand geschaffene Welt mit „nur einem kompetenten Bewohner“ (Harry Walter). Jetzt da die Krokusse blühen und Ostern vor der Tür steht, kann ich einen S-Bahn-Ausflug nach Herrenberg nur empfehlen. Wer schon ein wenig weiß über das irre Leben und Schaffen des Wolfgang Frey, wird beim Blick auf die Details der Anlage mehr sehen als Modelle einer Eisenbahnlandschaft. Wir schauen ins Auge dessen, was wir, meist leichtfertig, Wahnsinn nennen. |
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