Bauers Depeschen


Samstag, 04. November 2017, 1867. Depesche

‪WOHNUNGSKAMPF

Am Mittwoch, 8. November, zeigt der SWR um 20.15 Uhr in seiner Reihe "betrifft" die Reportage "Kampf ums Wohnen - wenn die vier Wände unbezahlbar werden". Danach, um 21 Uhr, ist die Doku "Wohnung weg - und was kommt dann?" zu sehen‬. In diesem Beitrag geht es u. a. um die Häuserabrisse in der ‪Beethovenstraße in Botnang ‬und in der Keltersiedlung in Zuffenhausen. Ein Filmteam des SWR hat die Stuttgarter Mieterinitiativen im Widerstand gegen den Abriss begleitet.



Hört die Signale!

MUSIK ZUM TAG



Die aktuelle StN-Kolumne:

DAS PARFÜM

Einige tausend Mal in meinem Leben war ich in Möhringen, ohne Möhringen je gesehen zu haben. Das alte Bahnhofsgebäude kenne ich. Ich steige immer gern an Orten aus, an denen es noch einen Bahnhof gibt, auch wenn er wie in Möhringen kein richtiger Bahnhof mehr ist. Gegenüber der Station ist das Backparadies. Keine dieser Kettenfilialen, sondern eine ehrenwerte Pausenoase mit guter Kost. Möhringen, dieser Flecken auf den Fildern, hat kein schlechtes Entrée, was einen die teuren Wohnungsblöcke entlang der Gleise bei der Einfahrt zunächst nicht vermuten lassen.

In Möhringen steht auch das Pressehaus, in dem ich vor mehr als einem halben Leben angefangen habe zu arbeiten – in der Prärie, an der Linie 3 nach Plieningen. Und nachdem ich mich jetzt in Begleitung Volker Grossers, Vorsitzender des Möhringer Bürgervereins, zu einem Rundgang ins Herz des Dorfs gewagt habe, fahre ich nicht sofort die 20 Minuten ins Stadtzentrum zurück, sondern mit der Linie 3 fröhlich winkend am Pressehaus vorbei nach Plieningen. Auf dieser kurzen Strecke gerätst du mitten hinein in eine der wild wuchernden Naturschneisen der Großstadt, die an das dörfliche Stuttgart erinnern.

Herrn Grosser habe ich zuvor am Bahnhof getroffen. Wir gehen ins Zentrum des südlichen Stadtbezirks. Mit den Stadtteilen Fasanenhof und Sonnenberg kommt Möhringen auf mehr als 30 000 Einwohner. Um kurz zu schildern, wofür die Prärie gut sein kann, muss ich den Ort allerdings zuerst von Süden ansteuern. Jeder bei uns hat schon von den Möhringer Musicalbühnen im SI-Centrum an der Plieninger Straße gehört. Der 1938 in Stuttgart geborene Showgeschäft- und Investmentabenteurer Rolf Deyhle realisierte einst seine Provinzvision nach dem Vorbild Las Vegas. In den Vierzigerjahren des 20. Jahrhunderts hatte der New Yorker Mafioso Benjamin „Bugsy“ Siegel in einem Kaff in Nevada das Luxushotel Flamingo samt Kasino und Showbühnen für Stars wie Frank Sinatra, Dean Martin und Sammy Davis jr. aus dem Wüstenboden gestampft. Ein halbes Jahrhundert später ließ Deyhle mithilfe wohlwollender Freunde aus der Politik Hotel, Kasino und Theater in Möhringens Feld- und Wiesenlandschaft hochziehen. Wer jetzt vermutet, die Las-Vegas-Anspielung sei nur ein Gag aus meinem kleinen Kinohirn, liegt falsch: Der schwäbische Entertainment-Unternehmer und Filmproduzent hat mir mal bei einer Zufallsbegegnung freudestrahlend erzählt, dass ich mit meinen Hinweisen auf seinen Ideengeber „Bugsy“ richtig liege.

Benjamin „Bugsy“ Siegel wurde nach Konflikten mit seinen Partnern von einem Killerkommando 1947 in Los Angeles erschossen. Rolf Deyhle wählte, lange nachdem er sich aus der Musicalbranche zurückgezogen hatte, im Mai 2014 während eines Kuraufenthalts den Freitod.

Die Möhringer Geschichten aus dem modernen Showbusiness sind heute in der Öffentlichkeit weniger bekannt als die teuflischen Dorfspektakel des Mittelalters: Bis in die Sechzigerjahre des 17. Jahrhunderts hinein wurden in Möhringen Frauen als Hexen verbrannt. Erst nach dem Tod des furchtbaren Esslinger Juristen Daniel Hauff 1665 wurden diese Hinrichtungen beendet.

Der Spitzname „Hexen“ ist den Möhringern bis heute geblieben. Sie haben sich einen 17 Kilometer langen Hexenweg zum Wandern eingerichtet, womit geklärt ist, dass er nichts mit dem sogenannten Märchenviertel im Ort zu tun hat: In dieser Wohnsiedlung hat man Wege nach Schneewittchen und Dornröschen, nach Rübezahl und ähnlichen Traumfiguren benannt. Also deutet nicht nur „Mary Poppins“ im derzeitigen Spielplan der Musicalbühnen auf ein Möhringer Fantasiefieber hin.

Zeit für mich, Bodenhaftung zu finden. Mein Ortsführer Volker Grosser (68), Medienfachwirt in Rente, lebt zwar schon seit 17 Jahren im zentralen Richterviertel, ist damit aber kein echter „Mairinger“, wie sich nur die Ureinwohner im Ort nennen dürfen. Ob der Name Richterviertel auf den Henkerplatz zurückgeht, weiß man nicht. Sicher ist, dass Möhringen nichts mit „Möhren“ oder „Mohren“ zu tun hat, sondern mit dem alemannischen Familiennamen Moros, auch wenn einst ein schlecht informierter Wappenmaler den Kopf eines schwarzen Menschen historisch und politisch unkorrekt ins Dorflogo setzte.

Im Richterviertel stand früher Carl Widmaiers legendäre Brauerei mit dem „Filder Gold“-Bier. In seiner Firma arbeitete Robert Leicht, der Carl Widmaiers Tochter Fanny heiratete und Schwaben Bräu gründete. Damit sind wir mitten in der Wirtschaftsgeschichte Möhringens, zu der Walter Raus Naturkosmetikfirma Speick gehört – bis zum Umzug 2008 nach Leinfelden-Echterdingen ein Möhringer Markenzeichen. Damit hatte Nöhringen neben Musicals eine wirklich gute Seifenoper. Wenn sich die Speickdüfte mit den Ausdünstungen der letzten Bauernhöfe im Ort vermischten, wusste man, wo man war. Dazu das Parfüm guten Leders: In der Richterstraße führt der Schuhmachermeister Michael Beron (49) seit 20 Jahren das traditionsreiche Geschäft Schiller. In dieser Umgebung ist es nur logisch, dass es auch feine Wirtshäuser gibt, sie heißen nach alter Väter Sitte Linde, Hirsch – oder Hexle.

Lange habe ich geglaubt, das mehr als 900 alte Möhringen sei ein Ort, aus dem man nach getaner Arbeit möglichst schnell flüchten müsse. Deshalb ist mir womöglich eine lebenswerte, mit großer Ruhe gesegnete, wenn auch von horrenden Immobilienpreisen geplagte Stadtnische entgangen. Herr Grosser lobt die vielen von den Inhabern geführten Geschäfte in der Filderbahnstraße – in der Nähe der evangelischen Martinskirche und des Rathauses, wo du noch einen echten Laden für Herrenbekleidung wie den Gessler oder einen sensationellen Fachhandel für Eisenwaren wie den Waldbaur findest.

Bei unserem Spaziergang begegnet uns nicht nur Fachwerk, sondern auch die eher futuristische Architektur der weithin geschätzten Kunstgalerie Abtart; der 80 Jahre alte Jazzschlagzeuger Charly Antolini hat in diesem Haus gerade ein Konzert gegeben.

Damit bin ich wieder im Kulturbetrieb gelandet. Aber wen wundert das in einer kleinen Gemeinde, die uns etwas von der ursprünglichen Bedeutung der Gentrifizierung vor Augen führt: von der Umwandlung von Arbeits- in Wohnräume. Das behaupte ich jetzt einfach mal als verspäteter Reigschmeckter mit wenig Ahnung von den echten Mairingern.



>> Joe Bauers Flauneursalon, die Lieder- und Geschichtenshow, ist am Donnerstag, 16. November, im Möhringer Bürgerhaus. Musik machen Loisach Marci und Thabilé & Steve Bimamisa, durch den Abend führt der Wortkünstler Timo Brunke. Beginn 20 Uhr. Vorverkauf in der Volksbank Möhringen - Reservierungen per Mail: vgrosser@gmx.de.



 

 

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