Bauers Depeschen


Donnerstag, 13. Juli 2017, 1817. Depesche



 



NACH HAMBURG -

EIN PAAR GEDANKEN (etwas spontan formuliert)

Heute, fünf Tage danach, ist mir halbwegs klar, wie falsch es gewesen wäre, mit einer schnellen „Meinung“ auf die Hamburger Ausschreitungen zu reagieren. In dem kleinen, 2017 erschienen Buch „Über Tyrannei“ des US-Historikers Timothy Snyder finden sich unter den „Zwanzig Lektionen für den Widerstand“ als Nummer 11 der Anleitungen zur Verteidigung der Demokratie die Worte: „Frage nach und überprüfe“. Das gilt in meinen Augen nicht nur für die Auseinandersetzungen mit Informationen und Positionen anderer, sondern auch für die eigene Sicht der Dinge. Über die ununterbrochen vorgetragene Forderung, sich von Gewalt zu distanzieren, und dem ebenso oft formulierten Vorwurf, die Gewalt zu unterstützen, muss ich ich hier nichts mehr sagen. Schon deshalb nicht, weil es für mich keine Frage ist, wer von den Hamburger Ereignissen politisch profitiert. Jedenfalls nicht links orientierte Menschen, die - wie unsereins - auch in Zukunft an Protestaktionen teilnehmen werden.

Nach der Lektüre vieler Berichte, Kommentare und Analysen von Augenzeugen, Beteiligten, Betroffenen, Aktivisten, Kriminologen, Soziologen, Philosophen usw. habe ich wieder mal gemerkt: In der ersten Reaktion auf ein von Gewalt geprägtes Desaster kommt all das hoch, was am leichtesten abrufbar ist – Schuldzuweisungen, Vorverurteilungen („Ich hab`s ja immer gewusst“), das Sündenbockdenken. Zu denken gab mir, dass ich in Hamburg auch festgestellt habe, wie wenig meine eigenen Beobachtungen zur Beurteilung der Lage taugen. Gelernt habe ich beispielsweise, frei nach Raymond Chandler: Die Gedanken beim Blick auf die Bilder der Nacht halten dem Tageslicht nicht stand.

Selbst die mit eigenen Augen wahrgenommenen Bilder der sogenannten Realität sind trügerisch – und die Ausschnitte der Kameras noch viel mehr (etwa bei nächtlichen Bildern von Feuer und Rauch). Ein Polizist, der – wie geschehen – wenige Meter unter mir reglos auf der Straße liegt, weckt in der Nacht andere Ängst als am Tag (er hatte kollabiert).

Die Rechtsstaatlichkeit und ihre Gesetze erfordern in Wahrheit ein radikales demokratische Denken: Die Unschuldsvermutung hat bedingungslos zu gelten, und selbst der übelste Täter, der nicht mal mehr eine klammheimliche Sympathie zu erwarten hat, besitzt seine ihm gesetzlich garantierten Rechte.

Der Reflex, eine diffuse Gruppierung namens „links“ abzuurteilen und sie permanent mit „rechts“ zu vergleichen, wie ich es auch unter meinen Bekannten erlebe, entspricht einem reaktionären Denken. Fast jeder von uns trägt reaktionären Unrat mit oder in sich herum – und sollte ständig dagegen ankämpfen: täglich etwa bei unterschwelligen rassistischen Gefühlen (immer wieder erwische ich mich selbst dabei).

„Die“ Linken ohne Prüfung der Vorgeschichte des Protests, der Polizeistrategie, der regierungspolitischen Hintergründe und der unterschiedlichen Zugehörigkeiten der Randalierer und ihrer Mitläufer als alleinige Verursacher der Gewalt beim G20-Gipfel abzuurteilen, wäre selbst dann noch ein Zeichen von Denkfaulheit, wenn sich irgendwann herausstellen würde, dass niemand außer „den Linken“ die Gewalttaten begangen hat – nach dem heutigen Stand eine absurde These. Die reaktionäre Denkweise könnte leicht in die Floskel münden: „Ich bin für Demokratie, aber . . .“

Ereignisse wie Hamburg kommen Teilen der herrschenden Politik sicher nicht ganz ungelegen, um im Zweifelsfall demokratische Rechte leichter abzubauen – denken wir an die Versammlungsfreiheit, die bei uns oft genug wie ein Akt temporärer Großzügigkeit oder Gnade gesehen wird, ähnlich dem Motto: „Streiken darf man schon mal – solange es keinen stört.“ Die Weltordnung dieser Denkmuster ist eh klar: „links“ produziert Nordkorea, die „Mitte“ Schweden – und „rechtsextrem“ war/ist nur ein historischer Unfall.

Der Reflex und das schnelle Urteil verhindern zudem die richtige Deutung der Propagandasprache, darunter etwa der bewusst politisch gesteuerte Unsinn, die Hamburger Krawalle hätten „bürgerkriegsähnliche Zustände“ heraufbeschworen. Aleppo sieht anders aus als das Schanzenviertel am Morgen, wie ich es gesehen habe. „Achte auf gefährliche Wörter“, heißt eine weitere Lektion des Historikers Snyder. Über die bewusst einfach formulierten Sätze seiner Politfibel lässt sich streiten, über eine Sache eher nicht: Ein vernünftiger, sich als „kritisch“ oder gar „weltoffen“ einschätzender Mensch muss sich und anderen fortwährend Fragen stellen – und darf sich nicht auf seine „Meinung“ als Ergebnis schneller Eindrücke und Einschätzungen verlassen. Es gibt auch eine Gewalt, die man nicht spürt, solange man auf der Sonnenseite lebt.

Meine generellen Zweifel an der „Meinung“ hindern mich im Übrigen nicht daran, eine Haltung haben – wobei ich mir nicht immer sicher bin, ob sie die richtige ist.

 

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