Bauers Depeschen


Donnerstag, 22. Juni 2017, 1806. Depesche



 



Die aktuelle StN-Kolumne:



FLAMBIERMEILEN

Einige von uns im Kessel haben inzwischen zu spüren bekommen, warum mit dem herumschwirrenden Wort „Concha“ nicht nur eine ehrwürdige Kneipe am Wilhelmsplatz gemeint sein kann. Das Sommerhoch Concha hat eine verdammte Hitze in den Kessel gepumpt, weshalb ich wieder mal meine Lieblingssätze aus dem Buch „Gleißendes Glück“ der schottischen Schriftstellerin A. L. Kennedy zitieren muss. In ihrem Leben zwischen zwei Männern landet die Romanheldin Mrs. Brindle auch mal in Stuttgart: „Der Kleine Schlossplatz bog sich unter der Sonne, und eine freundliche Leuchtanzeige verkündete die weithin sengenden Temperaturen. Sie setzte sich in Windrichtung neben einen Springbrunnen und versuchte, sich auf die regelmäßigen Wellen feinen Sprühregens zu konzentrieren, den die ­Hitze fast schneller wieder verdunsten ließ, als er auf ihrer Haut landete (. . .) Jenseits der Wasserkaskaden sah man Klippen und Vorsprünge aus ­Beton. Die ganze Stadt war in glühenden Beton aus blasser Berghitze eingekesselt.“

Es gibt für diese Stadt kein schöneres Hochsommerbild als glühendern Beton in blasser Berghitze. Und selbst­verständlich gebe ich zu, dass ich für die heutige Kolumne auf kleinem Radius Zitate gesammelt habe, um in der Schwüle des Kessels nicht ausgerechnet beim Spazierengehen den Geist aufzugeben.

Ich denke sogar daran, das Spazierengehen wegen drohender Belanglosigkeit einzustellen. Neuerdings, nach den Vorstößen der Fraktion Linke/SÖS-plus und ihrer Initiative mit dem Stolpernamen „Stuttgart laufd nai“, planen Grüne und SPD im Gemeinderat überfallartig den totalen Benzinentzug: Sie wollen „die ganze City zur großen Flaniermeile machen“.

Schon wieder verspricht die Marketingfloskel „Flaniermeile“ Müßiggang und Beschaulichkeit, dient in Wahrheit aber auch dem Geschäft auf den Konsumpisten mit ihren Kredikartenfallen. Die Parkhäuser bleiben vorsichtshalber unangetastet. Warten wir’s ab, was passieren wird auf unseren abgasvergiteten Flambiermeilen.

Lustig klingt der Plan, weil er, wie ein zeitgeistreicher Soze sagt, mit einem „Zielbeschluss“ im Gemeinderat realisiert werden soll. Vermutlich braucht er diese depperte Wortkoppelung zur Unterscheidung eines Zielbeschlusses vom Ziellosbeschlus – der weder „zielführend“ noch „machbarkeitsorientiert“ gedacht und deshalb nur „angedacht“ ist.

Flaniermeilen sind falsche Versprechen aus den Fabuliermäulern der Politik – dennoch wäre eine nur halbwegs von Autos befreite Innenstadt eine Wohltat. Die Junge Union allerdings tritt jetzt zu einem anderen verkehrspolitisch befeuerten Zielbeschuss an: Ausgerechnet die Heilbronner Straße soll in „Dr.-Helmut-Kohl-Straße“ umgetauft werden. Diese Strecke, zufällig Adresse der schwarzen C-Jugend, sei die „Lebensader des Europaviertels“ und deshalb ein würdiger Erinnerungsort für Kohl.

Eigentlich keine schlechte Idee. Weil die Heilbronner Straße mit ihrem Horrorverkehr eine scheußliche Schneise in die einzigartige Topografie der Stadt geschlagen hat, erinnert sie uns seit jeher an den Abrisswahn in der Stadt – und damit an Kohls Spitznamen „Birne“.

Da momentan etwas gehfaul im Flaniermeilenparadies, greife ich auch angesichts der Lebensader des Europaviertels auf ein zeitloses Zitat zurück – es stammt aus einem „FAZ“-Aufsatz des Architekten Christoph Mäckler von 2016: „Wenn wir durch die von Planern angepriesenen neuen Stadtviertel hinter den Bahnhöfen von Stuttgart, Zürich oder Frankfurt gehen, die ihre Urbanität und Zukunftsfähigkeit glauben schon mit ihrem Namen ‚Europaviertel’ nachweisen zu können, fröstelt es uns angesichts der abstoßenden Kälte und Langeweile, die uns in den ungefassten Stadträumen entgegenschlägt. Genau­genommen sind es auch keine Stadträume, sondern Resträume, die zwischen den von Architekten geplanten und neu errichteten Häusern erhalten bleiben, und von Landschaftsplanern mit gepflasterten Wegen, Kinderspielgeräten, Bänken, Büschen und Bäumen aufgefüllt werden, damit sie gegenüber dem Bürger in ihrer räumlichen Belanglosigkeit noch irgendwie zu recht­fertigen sind.“

Und da wir jetzt in der Nähe unserer Bahnhofsruine sind, habe ich auch für diesen Ort ein hochaktuelles Zitat ausgegraben. Bekanntlich sollen im Bahnhof ein Hotel und darunter – zur Notversorgung der Stadt – ein Einkaufszentrum gebaut werden. Die Fassade soll unversehrt bleiben – wie auch die Leuchtschrift mit dem ­Hegel-Zitat: „ . . . daß diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist“. Gestaltet hat diese Schrift 1993 der frühere Kunstakademie-Professor Joseph Kosuth im Auftrag der Deutschen Bahn. 2010 hat der Amerikaner in einem Interview über Städtebau, Stuttgart 21 und die Zerstörung historischer Orte wie den Paul-Bonatz-Bau gesagt: „Selbst wenn etwas nicht vollständig abgerissen wird, so lässt man in der Regel nur die Fassade stehen und baut dahinter praktische Gebäude. Das ist ein rückschrittliches Architekturverständnis. Architektur hat die Psychologie eines Ortes zu konservieren, dadurch ist es uns Menschen möglich, eine Verbindung herzustellen zu den Menschen, die vor uns dagewesen sind. Durchbricht man diese Logik, indem man nur die Fassade stehen lässt, verändert man die Städte, in denen wir leben, in eine Art Euro-Disneyland.“

Und dann passiert da noch etwas auf den Flaniermeilen der Euro-Stadt. Als Anregung für meine Spaziergänge erhielt ich diese Botschaft eines Daimler-Arbeiters: „Aktuell geht es heiß her in Untertürkheim. Denn die Werkleitung hat einen heftigen Forderungskatalog aufgestellt, Schweineliste genannt. So soll ein Batteriewerk kommen ohne Tarifvertrag, alle sollen drei Tage pro Jahr kostenlos arbeiten und weniger Azubis eingestellt werden. Der Unmut ist so groß, dass für diesen Donnerstag die Schleyerhalle für eine außerordentliche Betriebsversammlung angemietet wurde. Da werden Tausende Kollegen aus dem Werk heraus hinflanieren.“

Damit verabschiede ich mich mit solidarischen Grüßen an alle Kolleginnen und Kollegen mit der Courage zum aufrechten Flanieren. Lasst Euch nicht rasieren!



 

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