Bauers Depeschen


Donnerstag, 13. April 2017, 1776. Depesche



 



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Die aktuelle StN-Kolumne:



SCHWELLE ZUR WELT

Nicht immer ist der Spaziergänger auf Schusters Rappen unterwegs – und wenn ich heute dieses poetische Bild vom armen Handwerker ohne Pferd verwende, dann aus traurigem Anlass: Der Schuhmachermeister Johannes Metzner, bald 80 Jahre alt, hat Ende März Laden und Werkstatt an der Ecke Johannes-/Traubenstraße am Hölderlinplatz geschlossen. Ein halbes Jahrhundert hat er in diesem Geschäft gearbeitet. Hätte ich das früher mitbekommen, wäre mir der Schuhmacher heute mehr als einen Absatz wert.

Noch am selben Morgen, an dem ich an der Tür unter dem Schriftzug „Moderne Schuhreparatur“ von Herrn Metzners Abschied gelesen habe, packt mich der Gastwirt Andreas Göz vom Vaihinger Maulwurf in seinen alten Diesel, um mir einen seiner Lieblingsorte zu zeigen. Man muss nicht alles zu Fuß erledigen, wenn man weder Rappen noch Mercedes besitzt.

Von Vaihingen fahren wir ein Stück abwärts Richtung Zentrum, Leonberger Straße. Ziel unseres Kurzausflugs sind die Bahngleise im Wildpark in der Nähe der psychiatrischen Klinik Rudolf-Sophien-Stift. Selbstverständlich wäre dieser Ort auch zu Fuß oder im Stundentakt mit dem 92-er Bus zu erreichen. Doch muss ich meine Kräfte schonen, um mit der letzten kriminellen Energie eines alternden Gauls einen nicht besonders hohen Zaun zu überwinden.

An der Leonberger Straße steht bis heute ein kleiner, eingezäunter Bahnhof: der ­einstige Wildpark-Haltepunkt der Gäubahn. In Betrieb genommen wurde er 1896, 17 Jahre nach der Eröffnung der Strecke. Das Häuschen mit seinem mächtigen, mit ovalen Ziegeln gedeckten Schrägdach ist in gutem Zustand und laut Deutscher Bahn in Privatbesitz. An einer Tür ist noch die Aufschrift „Warteraum“ zu lesen, an einem Fenster hinter verschnörkeltem Eisengitter „Fahrkartenausgabe“. Einst war diese Station im lichten Waldgebiet ein beliebtes Ausflugsziel. In der Nähe geht es zum Bärenschlössle und zu den Seen im Rot- und Schwarzwildpark, zum Schloss Solitude und zu den Heslacher Wasserfällen.

Nach der Wildpark-Station hielt früher der Zug in Richtung Zentrum am Haltepunkt Heslach und am Westbahnhof (bis 1895 Hasenbergstation genannt). Der Wildpark-Stopp wurde 1961, der Westbahnhof 1985 für den Personenverkehr geschlossen. Diese Strecke ist voller Erinnerungen. Bis zu seinem Tod mit 88 Jahren am 30. März 2011 hat der legendäre Stuttgarter Grafikdesigner, Typograf und Autor Kurt Weidemann im denkmalgeschützten Stellwerk am Westbahnhof gearbeitet. Dieses Häuschen war das letzte Atelier des Mannes mit dem schwarzen Schlapphut, den roten Ferrarischuhen und den gescheiten Sprüchen: „Um Anstöße zu geben, muss man anstößig sein.“

Die Gäubahn ist heute alles andere als eine Nostalgie-Route für Dampfmaschinisten. Bekanntlich soll die Strecke nach Zürich schon bald überholt und mit Neigetechnik-Zügen der Schweizerischen Bundesbahn befahren werden. Und selbst wenn der Landesverkehrsminister heute vorzugsweise von der „internationalen Ausbaustrecke Stuttgart-Zürich“ spricht, wird er den Namen Gäubahn nicht aus der Welt schaffen wie einen den Spekulanten lästigen Kopfbahnhof.

Ein enger Freund der Gäubahn ist der Stuttgarter Diplomgeograf Wolf-Andreas Richter, 52. Er kennt die einzigartige Strecke in- und auswendig: den Kriegsbergtunnel nach dem Nordbahnhof in den Westen, den Hasenbergtunnel nach dem Westbahnhof in den Süden. „Für mich“, sagt er, „war die Strecke zu Teenager-Zeiten das Tor zur großen Welt – als Startroute zu Interrail-Reisen. Und regelmäßig habe ich den Locomotive Breath auf der Fahrt zu meinen ersten Rockkonzerten in der Böblinger Sporthalle geatmet.“

„Locomotive Breath“, das Schnaufen der Lokomotive, bezieht sich auf den gleichnamigen Song von Jethro Tull und eine Pop-Ära, in der nicht nur der Rhythm & Blues der Rolling Stones an rollende Eisenbahnräder erinnerte. Die Schleyerhalle eröffnete erst 1983, bis dahin mussten die Stuttgarter Rockfans zu größeren Ereignissen nach Böblingen fahren. Überhaupt hat die Gäubahn einst Träume von der großen Welt geweckt, schließlich führte sie Richtung Italien.

Gute Musik spielte auch mal in der Nachbarschaft des ehemaligen Wildpark­Haltepunkts eine Rolle. Das Ausflugslokal Wildparkstüble an der Leonberger Straße wurde in den Achtzigern zu einer originellen Szene-Bar mit starkem Sound umgemodelt; ich selbst kann mich daran nur dunkel erinnern: Wer die wilden Tage wirklich erlebt hat, weiß nicht mehr viel.

Widme ich mich also lieber der Geschichtsschreibung, wie sie beispielsweise in dem Buch „Stuttgart zu Fuß“ zu finden ist: Zehn Jahre nach der Eröffnung der Gäubahn, am Tag, an dem die Hasenbergstation einen Fernsprechanschluss bekam, ereignete sich auf der Strecke ein Unglück, bei dem acht Menschen starben und etwa 50 verletzt wurden. „Am Vormittag des 1. Oktober 1889 war der Zug nach Böblingen zwischen Vaihingen und der Wildpark­Station stecken geblieben. Vom Bahnhof Hasenberg wurde eine Schublok zur Hilfe dorthin beordert, die nahe dem Wildpark mit dem Zug 222 aus Horb zusammenstieß, weil Alarmsignale nicht beachtet worden waren.“ Und schon damals gab es Katastrophen-Gaffer: Am Wochenende nach dem Unglück strömten Tausende Schau­lustiger zum Unfallort. Anteilnahme spürte die Bevölkerung eher bei der Beerdigung der Opfer auf dem Pragfriedhof.

Das ehemalige Wildparkstüble wiederum weckt auch heute wieder die Lust auf Natur: Unter dem Namen Wildpark-Club hat sich an der Schwelle zur Bahn ein Swingerclub eingenistet. Laut Internet-Anmache bietet der Laden „erotisches Entertainment der Extraklasse – idyllisch und diskret“. Damit dürfte der Massenverkehr am ehemaligen Haltepunkt seinen Höhepunkt erreicht haben.

Zufrieden mit unserem Trip fahre ich mit meinem Begleiter Herrn Göz zur Abschlussbesprechung in den Westen, Zielbahnhof Café Stöckle; gleich um die Ecke sehe ich die leeren Schaufenster des Schuhmachers Metzner.



 

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