Bauers Depeschen


Donnerstag, 30. März 2017, 1766. Depesche

 

DIENSTJUBILÄEN

Am 29. März 2007 war erstmals auf dieser Homepage eine Depesche zu lesen (siehe Depesche vom Mittwoch, ich hätte das nicht mitgekriegt, Leserin Ulle hat es mir dankenswerterweise im Lesersalon geschrieben). Meine erste Kolumne unter dem Titel "Joe Bauer in der Stadt" hab ich im Februar vor 20 Jahren in den Stuttgarter Nachrichten gefüllt. Und im kommenden Jahr wird der Flaneursalon 20 Jahre alt. Damit zurück in die Gegenwart: Am Donnerstag, 6. April, ist der Flaneursalon in der Friedenau in Ostheim zu Gast. Unser Entertainer Roland Baisch hat aufgerüstet: Er tritt im Trio an - mit Frank Wekenmann (Gitarre) und Flo Dohrmann (Kontrabass). Das Duo Thabilé & Steve Bimamisa ist selbstverständlich auch am Start. Es gibt noch Karten: 0711/2626924



MUSIK ZUM TAG



Die aktuelle StN-Kolumne:



UND SIE SEHEN MICH NICHT

Eine nahezu ausgestorben Spezies genießt zurzeit große Aufmerksamkeit. Man nennt sie Fußgänger. Lange Zeit hat man diese Gattung in der Stadt nur noch wahrgenommen, weil mehr Frösche durch Nordic-Walking-Stöcke als unter tonnenschweren Autos starben.

Es ist ein sommerlicher Märztag, als ich mit offener Jacke in der Absicht durch die Stadt stiefle, es allen zu zeigen: Seht her, ihr PS-Stinker, hier geht ein Fußgänger!

Seit einige Politiker mitbekommen haben, dass Autos außer Geld auch reichlich Dreck in die Stadt bringen, versprechen sie uns besseren „Fußgängerverkehr“: Angeblich wollen sie halbwegs geeignete Wege für eine Fortbewegungsart schaffen, die lediglich körpereigene Gase erzeugt. Bisher sind Fußgänger nur auf den berühmten Staffeln unserer Stadt sicher. Dass der liebe Gott die Füße nicht nur zum Hochlegen und fürs Treten der Mitmenschen erfunden hat, begriffen etwas intelligentere Menschen schon früher.

Deshalb schaue ich hin und wieder in ein kleines Buch aus dem S.-Fischer-Verlag mit dem Titel „Auf buntbewegten Gassen“. Darin finden sich „literarische Spazier­gänge“ – und beispielsweise diese Sätze: „Wer geht, sieht im Durchschnitt anthro­pologisch und kosmisch mehr, als wer fährt (. . .) Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste in dem Manne und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. Man kann fast überall bloß deswegen nicht recht auf die Beine kommen und auf den Beinen bleiben, weil man zu viel fährt.“ Geschrieben hat das der Dichter Gottfried Johann Seume (1763 bis 1810) in seinem Text „Über das Gehen“.

Bis heute sagen wir: Das geht! Oder, etwas zeitgenössischer und nerviger ausgedrückt: Kretschmanns Asylpolitik – das geht gar nicht! In allen Lebenslagen jedenfalls heißt es: Etwas geht – oder es geht nicht. Der Gedanke an wirkliches Gehen aber ist weitgehend erlahmt. Besonders in Stuttgart, wo für Autos fast alles geht, weil man ihnen so viel durchgehen lässt, bis den Menschen auch die letzte Lust auf den aufrechten Gang vergeht. Unmöglich, trotz fortwährenden Luftalarms den Feinstaubgiftangriffen zu entgehen.

Warum für Fußgänger in anderen Städten weit mehr geht, versucht man inzwischen auch im Kessel zu ergründen. Im Rathaus gibt es dafür eine sogenannte Stabsstelle für Mobilität – ein lustiger Begriff, der an die Staffelläufer erinnert: Ich frage mich, wer da wem welchen Stab opportunistisch weitergibt, damit unser städtisches Leben so automobil bleibt, wie es ist.

Als ich an besagtem schönem Märztag durch die Stadt gehe, sehe ich anthropologisch und kosmisch eindeutig mehr als die tollen Typen in ihren vorbeifliegenden Kisten. Von der Olgastraße spaziere ich im Slalom durch das Bauarbeitengerümpel und die viel zu großen Autos in der Rosenstraße und nehme dann die Treppen zur Breuninger-Unterführung. Diesen Höhlenweg wähle ich selten, weil ich in unserer geteilten Stadt das etwas weiter südlich gelegene Fußgängerloch zwischen Brunnenwirt und Schwabenzentrum bevorzuge.

Links am Eingang des Breuninger-Schachts sehe ich eine Vase mit liebevoll arrangierten weißen Rosen, daneben ein rotes Grablicht. An diesem Platz hat jahrzehntelang derselbe Mann gesessen. Am vergangenen Sonntag ging die Nachricht um, er sei gestorben – nach langer Krankheit in Berlin bei seiner Tochter, die er innig geliebt habe. Glaubt man einem alten Zeitungsartikel, wurde er 69 Jahre alt. Drei Jahrzehnte hat er, intensiv tätowiert, meist mit einem Piratentuch oder einem Südstaatler-Hut auf dem Kopf, in der Unterführung Lieder zur Gitarre gesungen. Er war Straßenmusiker, und er hat beachtliche Fotos gemacht: Straßenszenen, die er ins Internet stellte.

Bis vor einigen Wochen war er da. Immer am selben Platz auf der Fußgängerstrecke zum Eingang vom Breuninger und weiter zur Treppe hinauf ans Licht. Er nannte sich Wolf der Finsternis – sein Arbeitsplatz war unter Tage. Gesehen habe ich ihn oft, geplaudert mit ihm nur selten. Er sang Cover-Versionen von Rockballaden, Protestsongs, Liedern mit deutschen Texten. Vermutlich war nie mein Lied dabei, wenn ich vorbeiging. Wohl deshalb blieb ich nie stehen, um ihm länger zuzuhören. Man warf Geld in seinen Gitarrenkoffer, neben dem lange ein Schäferhund kauerte.

Der Wolf gehörte zur Altstadt wie der steinerne Nachtwächter am Leonhardsplatz. Er schien nicht zu altern. Fast jeder kannte ihn, die meisten, ohne ihn wirklich zu kennen. Viele bewunderten ihn, einige wurden seine Freunde. Der Fotograf Lutz Schelhorn, Präsident der Stuttgarter Hells Angels, hat ihn oft porträtiert, unter anderem 2004 für die Zeitschrift „Motorrad“. Dem Reporter Norbert Sorg (er ist 2008 gestorben) hat Wolf aus seinem Leben erzählt, von seiner damals 28 Jahre alten Tochter, von seiner Kindheit, in der er mehr Prügel als Essen bekam, von seinem Elend in seiner Heimatstadt Frankfurt. Alkohol, Drogen, Knast. Irgendwann ist er als Tramp zufällig in Stuttgart gelandet und hat mit großer Kraft sein Leben geändert, um seine Tochter nicht zu verlieren.

Im Untergrund wurde er zum Wolf der Finsternis. Die Passanten in der Unterführung vertrauten ihm. Manchmal ließen sie ihre Kinder oder Gepäckstücke bei ihm zurück, um noch schnell ein paar Besorgungen zu machen. Einmal hat er sich ein kleines Motorrad zugelegt, um seinen entlaufenen Hund zu suchen. Er fand ihn nicht – und fuhr dem Traum hinterher, eines Tages die USA als Biker zu erobern.

Seit einiger Zeit sitzt ein anderer Musiker in der U-Ebene. Als er erfuhr, dass der Wolf für immer gegangen war, sang er Leonard Cohens unsterbliches „Hallelujah“. Auf den Internetseiten der Stuttgarter Zeitung findet man unter der Rubrik „Leserfotos“ einen Text, den der Wolf vor zehn Jahren über sich selbst geschrieben hat: „wer ich bin? wollt ihr das wirklich wissen? / ein Mensch? ein Wolf? / für die meisten bin ich ein Rätsel / die Menschen sehen mich und doch sehen sie mich nicht . . .“



 

Auswahl

27.08.2022

24.08.2022

22.08.2022
17.08.2022

14.08.2022

10.08.2022
07.08.2022

06.08.2022


Depeschen 2281 - 2310

Depeschen 2251 - 2280

Depeschen 2221 - 2250

Depeschen 2191 - 2220

Depeschen 2161 - 2190

Depeschen 2131 - 2160

Depeschen 2101 - 2130

Depeschen 2071 - 2100

Depeschen 2041 - 2070

Depeschen 2011 - 2040

Depeschen 1981 - 2010

Depeschen 1951 - 1980

Depeschen 1921 - 1950

Depeschen 1891 - 1920

Depeschen 1861 - 1890

Depeschen 1831 - 1860

Depeschen 1801 - 1830

Depeschen 1771 - 1800

Depeschen 1741 - 1770

Depeschen 1711 - 1740

Depeschen 1681 - 1710

Depeschen 1651 - 1680

Depeschen 1621 - 1650

Depeschen 1591 - 1620

Depeschen 1561 - 1590

Depeschen 1531 - 1560

Depeschen 1501 - 1530

Depeschen 1471 - 1500

Depeschen 1441 - 1470

Depeschen 1411 - 1440

Depeschen 1381 - 1410

Depeschen 1351 - 1380

Depeschen 1321 - 1350

Depeschen 1291 - 1320

Depeschen 1261 - 1290

Depeschen 1231 - 1260

Depeschen 1201 - 1230

Depeschen 1171 - 1200

Depeschen 1141 - 1170

Depeschen 1111 - 1140

Depeschen 1081 - 1110

Depeschen 1051 - 1080

Depeschen 1021 - 1050

Depeschen 991 - 1020

Depeschen 961 - 990

Depeschen 931 - 960

Depeschen 901 - 930

Depeschen 871 - 900

Depeschen 841 - 870

Depeschen 811 - 840

Depeschen 781 - 810

Depeschen 751 - 780

Depeschen 721 - 750

Depeschen 691 - 720

Depeschen 661 - 690

Depeschen 631 - 660

Depeschen 601 - 630

Depeschen 571 - 600

Depeschen 541 - 570

Depeschen 511 - 540

Depeschen 481 - 510

Depeschen 451 - 480

Depeschen 421 - 450

Depeschen 391 - 420

Depeschen 361 - 390

Depeschen 331 - 360

Depeschen 301 - 330

Depeschen 271 - 300

Depeschen 241 - 270

Depeschen 211 - 240

Depeschen 181 - 210

Depeschen 151 - 180

Depeschen 121 - 150

Depeschen 91 - 120

Depeschen 61 - 90

Depeschen 31 - 60

Depeschen 1 - 30




© 2007-2024 AD1 media ·