Bauers Depeschen


Samstag, 24. Dezember 2016, 1718. Depesche



 



LIEBE LESERIN, LIEBER LESER, EHRENWERTE GÄSTE & NEUGIERIGE,

ich wünsche Ihnen gute, erholsame Tage über Weihnachten - und etwas Gelassenheit. Kommende Woche geht es weiter ...



ES GIBT SCHON KARTEN:

FLANEURSALON IM GUSTAV-SIEGLE-HAUS

Im Gustav-Siegle-Haus gibt es im 1. Stock einen kleinen, feinen Saal, der in Vergessenheit geraten ist. Schöne Bühne, Platz für 150 Gäste. Vor mehr als 15 Jahren hab ich dort mal eine Veranstaltung gemacht - und mich jetzt daran erinnert. Am 20. Februar 2017 machen wir in dieser Kronleuchter-Kulisse, mitten im Leonhardsviertel, einen Flaneursalon - mit Stefan Hiss, Marie Louise & Zura Dzagnidze; durch den Abend führt Timo Brunke. Vielleicht taugt ja eine Karte als kleines Weihnachtsgeschenk - der Vorverkauf hat begonnen: online: KARTEN FÜRS SIEGLEHAUS - Telefon: 0711/2 555 555



Der Klick zum

LIED DES TAGES



Die aktuelle StN-Kolumne:



IRGENDWO

Als ich meinen Sonntagslauf durch den Dachswald am oberen Ende der Hasenbergsteige beendet hatte, hörte ich ein lautes Stöhnen, konnte aber zunächst nicht sehen, woher es kam. Dann entdeckte ich einen jungen Schwarzen, vielleicht 16. Bekleidet mit einer Camouflagejacke, machte er auf der Erde Liegestützen. Mit üblicher Altersneugier ging ich zu ihm und sagte: „Für welche Weltmeisterschaft trainierst du?“ Er lachte und sagte: „Ich trainiere für das Leben, Mann – das ist die größte Welt­meisterschaft.“ „Mann“, sagte ich, „diesen Satz werde ich mir merken.“

Das Leben, für das dieser Junge trainiert, ist eine merkwürdige Angelegenheit. Noch am selben Tag fiel mir in der U-Bahn ein „Brot für die Welt“-Plakat auf: „Manche lassen ihr ganzes Leben zurück. Um es zu behalten.“ Ich bin mir nicht sicher, ob dieser Satz aus einer Werbeagentur wahr ist. Wer weiß schon, ob jemand sein Leben zurücklassen kann, wenn er aufbricht, um irgendwo anders zu überleben. In dem Film „Crazy Heart“ spielt Jeff Bridges einen heruntegekommenen Countrysänger, der die Fünfzig überschritten und seine guten Zeiten hinter sich hat. Bei einem seiner besseren Auftritte sagt er zum Publikum: „Es ist schön, bei euch zu sein. In meinem Alter ist es gut, noch irgendwo zu sein.“

Das Irgendwo-Sein ist typisch für Countrysongs, die von gescheiterter Liebe, verpfuschtem Leben und ewigem Herumziehen handeln. Diese Lieder sind zuweilen humorvoll und selbstironisch, oft aber zutiefst romantisch, was keineswegs Kitsch bedeuten muss.

Ein Weltreisender war der 1836 in Kirchheim unter Teck geborene Ingenieur und Schriftsteller Max Eyth. Er studierte in Stuttgart und sammelte erste Berufserfahrung in der einst weltberühmten Maschinenfabrik Gotthilf Kuhn im heutigen Stadtteil Berg. In einer Geschichte über eine Eisenbahnfahrt mit dem Titel „Durch Amerika“ sagt er uns etwas über sein Verhältnis zur Romantik: „Man saust und jagt, aber man saust und jagt nicht aneinander vorbei und auseinander wie auf den kleinen Strecken in der Heimat. Man ist tagelang beisammen, man isst, trinkt und hungert vereint, man geht zu Bett und steht auf, erzählt sich Lebensschicksale und Rauchzimmergeschichten, kurz, es wäre wieder etwas von der alten Postkutschenromantik gerettet, wenn das Klima der Romantik nicht so gar zuwider wäre.“

Undenkbar, dass ein dem Fortschritt verpflichteter Ingenieur wie Max Eyth nostalgisch rückwärts schaut; niemals könnte es ihm genügen, „irgendwo“ zu sein. Irgendwo wäre nirgendwo.

Der eingangs erwähnte Satz des Jungen vom Dachswald hat mich verblüfft, weil der Junge spontan das Leben als „Weltmeisterschaft“ bezeichnete – als würde er weit über die Baumwipfel vor der eigenen Nase hinausschauen und das Leben als durch und durch internationale Angelegenheit mit reichlich Anstrengungen begreifen.

Der Blick auf die Welt, das lehren uns zurzeit Realität und Internet, wird immer enger: Unzählige Kommentarfelder auf Facebook und anderen unsozialen Netzen sind geprägt von Scheuklappen, die Hass gegen alles produzieren, was sie nicht selber sind. Differenzierungen, Abwägungen, halbwegs vernünftige Überlegungen gehen unter oder werden von Hetze verdrängt. Meine Sicht der Dinge mag bereits wie eine Plattitüden klingen – und ist womöglich nicht viel wert, weil mir zurzeit nichts Gescheites einfällt, was gegen den Hass getan werden kann. Obwohl klar ist, dass etwas getan werden muss, weil es sonst schon bald nicht mal mehr gut ist, wenigstens noch irgendwo zu sein.

Immer öfter frage ich mich: Wo sind wir eigentlich? Das ist keine Floskel, sondern Ausdruck der Orientierungslosigkeit. Meine Ratlosigkeit geht so weit, dass ich nicht mal mehr weiß, wo man Verbündete finden kann – im Kampf gegen den Hass auf Fremde und ihre Freunde, gegen den Wahnsinn des Sündenbock-Denkens und die Zerstörung jedes auch nur ansatzweise aufgeklärten Denkens durch den Dreck des Internets und anderer Medien.

Auch die Realität wird immer verrückter: Ein Araber in meinem Viertel erzählt mir, dass die Ehefrau eines mit ihm befreundeten Landsmanns AfD gewählt hat, weil sie Ausländer hasst. Ihren Mann verschont sie freundlicherweise: Dank seiner Ehe besitzt er einen deutschen Pass.

Es ist jetzt Weihnachten, und eine Portion Gejammer ändert so wenig wie ein „Klima der Romantik“, das dem Dampfmaschinen-Mann Max Eyht „so gar zuwider“ ist. In dem Buch mit Max Eyths Text und anderen Eisenbahngeschichten – es heißt „Mit des Blitzes Schnelle“ (S. Fischer Verlag) – findet sich auch ein kurzes Prosastück des Schriftstellers Robert Walser; 1895/96 wohnte er bei seinem Bruder, dem Maler Karl Walser, in der Stuttgarter Gerberstraße. In seinem Text „Der Bahnhof“ geht es um „die Halle, die ein Raum ist, der das Maschinenzeitalter veranschaulicht und etwas Internationales verkörpert. Beinahe romantisch mutet der Gedanke an, dass durch alle Länder während der sonnigen Tageszeit oder in den Nächten rastlos Züge hin- und herfahren. Welch ein weitverzweigtes Bildungs- und Zivilisationsnetz wird hierzu vorausgesetzt. Man kann Einrichtungen, die man geschaffen hat, Institutionen, die ins Leben gerufen wurden, nicht abschütteln. Was ich leiste, zustande bringe, verpflichtet mich.“

Daran könnte man jetzt denken: an Max Eyths Eisenbahnwaggon, in dem man vereint ist mit Fremden, und an Robert Walsers Verpflichtung gegenüber dem Zivilisationsnetz und einer Bahnhofshalle, die etwas Internationales verkörpert.

Robert Walser starb nach einem Herzanfall. Man fand den Spaziergänger am 25. Dezember 1956 tot im Schnee. Ich wünsche besinnliche Weihnachten.

 

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