Bauers Depeschen


Sonntag, 17. Juli 2016, 1656. Depesche

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LIED DES TAGES



Rede auf der Samstagsdemo gegen S 21 am 16. Juli 2016 auf dem Schlossplatz:



Schönen guten Tag, verehrte Protest-Gesellschaft von Stuttgart,

es ist höchste Zeit, wieder hier zu sein, in dieser erregenden Umgebung: gleich in unserer Nachbarschaft der Landtag, links von Ihnen, meine Damen und Herren, das typisch demokratische Wahrzeichen der Macht, ein feudalistisches Schloss, in dem unter anderem das Finanzministerium residiert. Diese Herrschaften dort könnten uns sicher erklären, was zehn Milliarden Euro bedeuten: Zehn Milliarden sind zehntausend Millionen Euro. Das ist die gegenwärtige Summe, die das Immobilienunternehmen Stuttgart 21 verschlingen soll. Und bei dieser Rechnung ist nach oben noch weit mehr Luft als im gesamten total feinverstaubten Kessel.

Unter zehntausend Millionen Euro kann sich kein Mensch etwas vorstellen, der Monat für Monat schauen muss, wie er in dieser Stadt der Spekulanten noch seine Wohnung bezahlen soll – sofern er eine gefunden hat. Diese Summe mit ihren zehn Nullen muss jedem halbwegs geerdeten Menschen inzwischen derart abstrakt vorkommen, dass er sie nicht mehr realisieren kann. Und die Politiker und die Bahnmanager, die diese Kohle verschieben, spekulieren genau damit: Irgendwann wird es den Menschen schon wurscht sein, ob es um zehn oder zwanzig Milliarden oder um eine Billion geht. Solche Größenordnungen, denken die Herrschaften, gehen ohnehin über den Horizont der meisten Bürgerinnen und Bürger. Und genau deshalb stehen wir, liebe Mitstreiterinnen und Mitstrei ter, heute auf dem Schlossplatz. Damit die Lobbyisten und die Profiteure von Stuttgart 21 merken, dass sie uns nicht für dumm verkaufen können. Und dass nicht alle schweigen – oder auf dem Fischmarkt sind.

Damit bin ich bei einem wichtigen Thema. Immer bei Protesten taucht irgendwann die Floskel auf: „Das bringt doch eh nix.“ Dies ist der Satz der Sofa-Sitzer. Diese Leute haben wohl nie darüber nachgedacht, dass all das, was wir hier und heute machen, früher mal mit Widerstand und Protest erkämpft werden musste: In diesem Bewusstsein nehmen wir auf diesem Schlossplatz unser Versammlungsrecht und unser Recht auf Meinungsfreiheit wahr. Wir zeigen, dass es immer noch möglich ist, auf die herrschende Politik zu reagieren und gegen die ungerechten Verhältnisse im Land zu demonstrieren.

Diejenigen, die sagen „Das bringt doch eh nix“, tragen mit ihrem Nichtstun dazu bei, demokratische Grundrechte aufzugeben. Das liegt an Denkfaulheit, an Bequemlichkeit und auch – im Sinne von Erich Kästner – an „der Trägheit der Herzen“.

Wir hier allerdings haben keine Lust, erwartungsgemäß dumm zu grinsen, wenn der propagandistisch gut geschulte Ministerpräsident im folkloristischen Ton eines Dorftheater-Intendanten erklärt: „Dr Käs isch gässa.“ Entgegnen wir ihm also: Soll er das miese Zeugs doch selber essen, das er produziert. Wir jedenfalls haben es nicht geschluckt. Wünschen wir Herrn Kretschmann gute Verrichtung beim Blick auf den Zehntausend-Millionen-Käse. So sieht übrigens der Haufen aus, auf den bekanntlich immer der Teufel scheißt.

Bleiben wir noch kurz bei der Abteilung „Das bringt doch eh nix“. Mich interessieren Marketing-Floskeln wie „erfolgsorientiert“ und „ergebnisorientiert“ nicht im Geringsten. Abgerechnet wird bekanntlich zum Schluss. Wir sind keine Propheten und keine Gestrigen – wir stellen uns dem Hier und Jetzt. Dieser Protest gegen Stuttgart 21 lebt seit sieben Jahren. Zwar ist wie oft bei Protestbewegungen die Beteiligung im Lauf der Zeit zurückgegangen. Vor allem nach dieser obskuren Veranstaltung im Jahr 2011, die viele Ahnungslose für eine demokratische Volksabstimmung hielten. Tatsache bleibt: Jeden Montag demonstrierten Menschen weiterhin gegen Stuttgart 21.

Und würden nicht weiterhin erstklassige Ingenieure, Architekten und Juristen in den Reihen des Protests die Machenschaften der Stuttgart-21-Betreiber aufdecken und bei diesen Demos darüber reden – dann kämen die ganzen Auswüchse und Schweinereien dieses Zehntausend-Millionen- Wahnsinns erst gar nicht ans Licht. Dann könnten die Profiteure dieses Projekts ihre Tunnel- Geschäfte weiter betreiben, ohne dass je ein Mensch davon erfährt, was da wirklich abläuft im Untergrund. Welchen Murks sie produzieren – und wer dafür bezahlt. Allein deshalb wäre es falsch und fatal, sich in die Ecke der Bequemen zurückzuziehen und „Das bringt doch eh nix“ zu lamentieren.

Sagen wir es doch präzise: Was denn sonst soll etwas bringen in dieser Form von Demokratie, als sich regelmäßig sichtbar und hörbar zu wehren? Gut, wir können alle paar Jahre unsere Stimme an eine Partei abgeben – sollten aber aufpassen, dass wir irgendwann nicht auch noch jene Stimme abgeben, die wir heute hier erheben.

Klar kenne ich auch das Argument, es gebe zurzeit noch andere wichtige Dinge zu tun, als gegen Stuttgart 21 zu protestieren. Da stimme ich zu. Und zwar aus folgendem Grund, ich kann es nicht oft genug sagen: Als Stuttgart 21 im Jahr 1995 erstmals in Cannes vorgestellt wurde, interessierte sich an der Côte d'Azur kein Mensch für einen unterirdischen Bahnhof – Cannes ist bekanntlich eine der größten Immobilienmessen in Europa! Vielmehr machte in der Branche die Nachricht die Runde, in Stuttgart gehe es um ein sensationelles Immobilien-Geschäft mit den finanziellen Ausmaßen vom Wiederaufbau Beiruts und vom Neuaufbau Ostberlins.

Exakt von dieser Aussicht auf ein Milliardengeschäft war damals in der Zeitung zu lesen – Winnie Wolf hat diese Geschichte schon vor mehr als 20 Jahren in seinem Buch über Stuttgart 21 dokumenstiert.

Heute berichten die Medien von der beängstigenden Mietexplosion und der bedrohlichen Wohnungsnot in der Republik – vor allem auch in Stuttgart. Und dennoch funktioniert bei uns – und erst recht außerhalb der Stadt – nach wie vor die Propaganda, bei Stuttgart 21 gehe es allein um einen Tiefbahnhof. Dieser Blödsinn, diese Beschönigung des Desasters, war erst neulich wieder in der Taz zu lesen.

Dass der laute Protest gegen das Zehntausend-Millionen-Projekt weiterhin dringend notwendig ist, erfahren wir fast täglich: Neulich zog der Vorsitzende des Vereins Bahnprojekt Stuttgart-Ulm mit Aalener Gemeinderäten über das S21-Gelände. Es handelt sich um einen Provinz-Lokführer der DB-Propaganda namens Brunnhuber. Mit Blick auf die Zehntausend-Millionen-Gruben zur Zerstörung der Stadt erklärte er seinen Politik-Touristen, ohne S21 würde ganz Baden-Württemberg vom internationalen Schienenverkehr abgehängt. Zu Deutsch: Nach Zürich oder Paris müssten wir demnächst zu Fuß gehen.

Besagter Brunnhuber – das entnehme ich der Schwäbischen Zeitung – erzählte seiner Versammlung auch, Stuttgart 21 werde „im Kostenrahmen“ bleiben und pünktlich 2021 fertig sein. Er sagte auch: Den jüngsten Rechnungshofbericht über die drastische Verteuerung gebe es überhaupt nicht. S21 ermögliche zudem – ich zitiere – „eine Durchbindung von Zügen aus Aalen direkt zum künftigen Flughafenbahnhof“.

Meine Damen und Herren, ich blicke nicht so genau durch, welche seltsamen Mondfahrer-Fantasien das Wort „Durchbindung“ bindet, ich weiß aber: Exakt so funktioniert die Provinzpropaganda der Deutschen Bahn; man verspricht den Leuten eine Direktverbindung von der Ostalb zum Ballermann.

Ballern auf den Cannstatter Wasen.

Die Wahrheit ist: Die Stuttgarter Politik hat sich in all den Jahren der Stuttgart-21-Gier auf den Ausverkauf dieser Stadt konzentriert – auf große Deals mit Investoren, ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Menschen und den architektonischen und topografischen Charakter der Stadt.

Wie sehr diese Investoren das Rathaus mitbeherrschen, ist uns nicht erst klar, seit der Finanzbürger- meister Föll den Investor für ein Hochhaus mit dem läppischen Namen Cloud Number Seven öffentlich als „lieber Tobi“ umarmte. Da kommen einem glatt die Tränen der Rühruug, wenn man sich vorstellt, wie der liebe Michel von der CDU ergriffen die Viagra-Architektur der Wolke Sieben an- himmelt. Genau dieser Herr Föll ist auch für den Wohnungsbau in Stuttgart zuständig – und dieser Wohnungsbau ist extrem wichtig für den sozialen Frieden in der Stadt.

Bei dieser Art Immobilienpolitik merken wir, dass das Projekt Stuttgart 21 weiß Gott mit noch ganz anderen Dingen zu tun hat als mit Verkehr. Gleichzeitig zeigt uns die Zunahme der Wohnungsnot symptomatisch die immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich. Normalverdiener haben es immer schwerer, eine Wohnung in dieser Stadt zu finden und zu bezahlen. Von den Armen ganz zu schweigen. Davon profitieren immer öfter die völkischen und rassistischen Kräfte. Denn diese Entwicklung fördert den Fremdenhass und das Sündenbock-Denken. Was im Landtag dort unten zurzeit die Rechten aufführen, muss ich Ihnen nicht sagen.

Ich kann aber sagen: Etliche von uns, die seit Jahren gegen Stuttgart 21 auf der Straße sind, haben so viel demokratisches Bewusstsein, dass sie sich auch auf anderen Gebieten gegen Missstände, gegen die Ungerechtigkeiten der Politik und gegen die Feinde der Demokratie engagieren. Es ist Unsinn, wenn im Fall Stuttgart 21 immer wieder ziemlich eingleisige Leute fordern, wir sollten gefälligst beim Thema bleiben und die Kirche namens Bahnhof im Dorf lassen.

Eine Protestbewegung hat die verdammte Pflicht, über ihren Tellerrand hinauszuschauen – es gibt inzwischen viele zu viele leere Teller in unserer Gesellschaft, als dass man den Zehntausend- Millionen-Wahnsinn isoliert betrachten könnte. Wir müssen das Unterirdische an diesem absurden Projekt im Großen und Ganzen sehen. Und dann merken wir: Was da läuft, ist so verdammt unterirdisch, dass wir gegen viel mehr als nur gegen einen U-Bahnhof und ein paar Gleise aufstehen müssen.

Damit bin ich wieder beim „Das bringt doch eh nix“-Gelaber. Die richtige Antwort auf diese Bequemlichkeitsformel besteht seit jeher aus nur einem Wort – und dieses Wort muss für uns lauten: DENNOCH! Wir wissen nicht, wie die Dinge enden – aber DENNOCH stehen wir hier. Wir müssen weiter Haltung zeigen – und auch in Zukunft tapfer bleiben!

 

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