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Dienstag, 26. Januar 2016, 1580. Depesche



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Die aktuelle StN-Kolumne:



MUSIKMÜLL

Es gibt die Redensart, wonach es besser sein, keinen Gedanken an etwas zu verschwenden. Ich kenne allerdings Tage, da würde ich hemmungslos jeden Gedanken verschwenden, so ich einen hätte.

Heute melde ich mich aus der Innenwelt, die seit dem Internet und seinen asozialen Netzwerken nur noch bedingt existiert. Fast überall, wohin man sich in diesen Tagen begibt, wird man mit der „Flüchtlingskrise“ konfrontiert. Hin und wieder muss ich auf die Gedankenflucht.

Schuld am Rückzug sind ein paar Unpässlichkeiten, über die man sich keine Gedanken machen muss, selbst wenn man ein paar übrig hat. Ein Spaziergang durch die Stadt jedenfalls brächte mir zurzeit keinen neuen Einblick ins Leben. Ich schwitze schon beim halbwegs aufrechten Gang zum Bäcker – und hoffe, dass mir gerade eine berührende Umschreibung für eine beschissene Wintergrippe gelungen ist.

Oft wünsche ich mir einen Ort in der Stadt, der ein wenig Ruhe an seine Gäste verschwendet. Einen Laden, ein Café oder eine Kneipe, die nicht mit sogenannter Musik­ beschallt werden. Der Gedanke an die Zeit der großen Kaffeehaus-Poeten ist ja nicht nostalgisch, wenn Kaffeehäuser so gute Gedanken wie die eines Joseph Roth hervorbringen. 1934 antwortete er mit Blick auf die Frage nach der „Mission des Dichters“: „Talent und Genie befreien keineswegs von der selbstverständlichen Pflicht, das Böse zu bekämpfen.“ Er forderte „Mitgefühl für die unterdrückten Menschen“, „Liebe zum Guten­“ und „Hass gegen das Böse“. Leute mit ähnlichen Gedanken werden heute als „Gutmenschen“ verhöhnt.

Immer wieder sehe ich schreibende Menschen in Cafés und Kneipen, manche arbeiten mit Stift und Papier, andere mit weißen Laptops der Firma Apple. Sie schreiben Liebesgedichte und Konzepte für Pop-up-Stores. Auch unsereins versucht regelmäßig, Gebrauchstexte auf einem städtischen Außenposten zu schreiben. Doch wird es immer schwieriger. Vor einiger Zeit saß ich in einem winzigen Eiscafé im Westen. Auf einem Flachbildschirm liefen Musikvideos von ehrbaren Männern wie Billy Idol und David Bowie – allerdings ohne Ton. Beschallt wurde das Café ersatzweise mit dem niederträchtigen Pop-Gedudel eines heimischen Radiosenders. Als ich auf dem Bildschirm David Bowies Engelstanz zum Schmierseifengesang Xavier Naidoos wahrnahm, wollte ich die Polizei rufen. Da fiel mir ein, dass die Poetin und Sängerin Patti Smith einmal auf die Frage, woran sie bei dem Wort Hölle denke, geantwortet hat: „Starbucks“. Ich saß nicht bei Starbucks, flüchtete dennoch zügig aus der Hölle. Widerstandslos haben wir uns an die nervtötende Beschallung gewöhnt. Damit meine ich nicht unbedingt die harten Klänge in lauten Kneipen, wo Vorschlaghammer-Exzesse zum guten Ton gehören wie Bohrmaschinenmassaker auf Baustellen. Auch Bekloppte haben ein Recht auf ihren Soundtrack.

Viel schlimmer ist die Geräuschkulisse in Cafés und Restaurants, wo irgendein schwachsinniger Gastronom seine Neigung auslebt, die Gäste mit seinem Musikmüll zu malträtieren. Vermutlich verspricht er sich von diesem Angriff auf Leib und Seele einen besseren Alkoholumsatz.

Der Dirigent Daniel Barenboim beschreibt in seinem Buch „Klang ist Leben“, wie die Dauerberieselung den Hörsinn zerstört: „Sie soll nicht wach machen, sondern betäuben und einschläfern, dumpfes Konsumieren an die Stelle des aktiven intellektuellen Teilnehmens treten lassen.“ Man nennt dieses Zeugs auch Fahrstuhlmusik oder „Muzak“ (nach der gleichnamigen US-Firma für Gebrauchsmusik). Die Verwendung von verstümmelten Klassikstücken als Muzak bezeichnet Barenboim als „ein Verbrechen“. Manche Lokale besitzen nach meiner Erfahrung so wenige Tonträger, dass die Berieselung damit einer Folter gleichkommt – grausam wie der berüchtigte Wassertropfen, der dem Opfer in kurzen Abständen auf die Schädeldecke fällt und es in den Wahnsinn treibt.

Unterdessen sind in Zügen und Straßenbahnen immer weniger Menschen ohne Knopf im Ohr zu sehen, wobei die Nebensitzer ohne Kopfhörer oft einer furchtbaren Co-Beschallung ausgesetzt sind. Das undefinierbare Zischen und Wummern aus den Stöpseln des Sitznachbarn muss selbst im friedlichsten Menschen den Hass gegen das Böse wecken.

Diese Angriffe auf den ohnehin verkümmerten Hörsinn des Menschen haben auch in Konzerten zu einer Verrohung des Publikums geführt. Das Husten in klassischen Konzerten, anscheinend ein Grundrecht auf freie Entfaltung, sehen Musikliebhaber eher als Terrorattacke auf den inzwischen unschätzbaren Wert der Stille. Der Lärm feinstaubverletzter Bronchien ist freilich ein Klacks gegen das Verhalten von Konzertstrolchen im populären Bereich.

Gerade erst hat der auch bei uns bekannte Folk- und Bluessänger Biber Herrmann mit großer Zustimmung auf Facebook geschildert, warum er seinen Auftritt in der hessischen Kleinstadt Hanau nach vier Songs abgebrochen hat. Die Leute an der Bar des Jazzkellers hatten mit ihrem respektlosen lauten Gelaber dem Musiker und dem Rest des Publikum jede Konzentration geraubt. Solche Störgeräusche erlebt man ständig bei Shows in kleineren und mittleren Klubs. Konzerte dienen einem Teil des Publikums nur noch als Treffpunkte zum Abklatschen, Tratschen und Gesehenwerden. Und selbstverständlich als große Chance, das eigene, unfassbar wichtige Dasein mit Videos und Fotos per Taschentelefon im Internet zu dokumentieren.

Meine Beobachtungen stammen nicht aus dem Frustrations-Tagebuch eines verhinderten Benimmlehrers. Ich schildere nur alltägliche Fakten aus dem Leben eines gebeutelten Musikfreunds. Jedenfalls vergeht einem schnell Hören und Sehen beim Blick auf großmäulige Selbstdarsteller, die keinen Gedanken an die Musik verschwenden. Schon weil sie keinen haben.



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