Bauers Depeschen


Dienstag, 19. Januar 2016, 1578. Depesche



 



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LIED DES TAGES



Die aktuelle StN-Kolumne:



BIS INS HIRN

In diesen Tagen kämpfe ich mich, zum ersten Mal im Leben, mit Haken und Ösen durch die Stadt. In weiser, meinetwegen auch weißer Voraussicht habe ich mir unlängst Schnürstiefel zugelegt, mit Lammfell gefüttertes, klobiges Schuhwerk, das ich aus niedrigen Beweggründen verachte. Natürlich braucht ein Spaziergänger wie unsereins Schnürschuhe, will er nicht beim ersten Schnee- und Feinstaubalarm in der Stadt in Cowboystiefeln sterben.

Ja, es herrscht Feinstaubalarm im Kessel, und der Oberbürgermeister macht wieder mal das, was er am besten kann: Er tut so, als ob er etwas tue. Ist ja Wahlkampf.

Seit Montag sind die Autofahrer aufgerufen, nicht Auto zu fahren. Eine glorreiche Idee: Was könnten viele Autofahrer in der Autostadt Stuttgart zum Erhalt ihres Selbstbewusstseins anderes tun, als Auto fahren?

Die Aufforderung, die Karre FREIWILLIG stehen zu lassen, erinnert an die depperte „Mobilitätskampagne“ des Oberbürgermeisters vom vergangenen Herbst. Diese Aktion, gestaltet von einer Werbeagentur, war teurer als ein Super-Porsche und überzeugte durch rührende Einfalt: Der geneigte Aus- und Umsteiger stieß überall in der Stadt auf Plakate mit einem Foto des Oberbürgermeisters samt dem Appell, er möge doch mit Bahn und Bus fahren. Mit gutem Gespür für die flächendeckende Wirkung hatte man diese Plakate auch in die Waggons der Stadtbahnen gehängt – wohin sich, von einigen Unfällen abgesehen, eher selten ein Autofahrer in seinem Auto verirrt.

Das Kommando „Feinstaubalarm“ wirkt heute, da die Abstauber der Werbebranche den Begriff Alarm für Events wie „Art Alarm“ oder „Rock Alarm“ missbrauchen, etwa so bedrohlich wie eine Einladung zur „Feinstaubparty“ – vom Feinsten, versteht sich. Und selbstverständlich wird die große reale Gefahr von Feinstaub für Leib und Leben nicht nur von extremistischen Klimawandel-Leugnern, sondern generell von den „Mehr und mehr“-Brüllern heruntergespielt. Die menschenverachtende Arroganz, Warnungen vor Umweltgefahren als Launen von „Gutmenschen“ und ­ähnlichen Sündenböcken abzutun, könnte allerdings mit der Wirkung von Feinstaub zu tun haben: Dieses schleichende Gift, wissen Ärzte, kann über den Riechnerv bis ins Gehirn eindringen, falls vorhanden. In den USA hat man bei Langzeituntersuchungen herausgefunden, dass Feinstaub und Ruß Demenz beschleunigen.

Ein Fahrverbot für Autos bei Smog-Alarm kommt in Stuttgart selbstverständlich nicht in Frage. Das wäre das Ende des heimischen Industrie-Wachstums und der Tod der grün-schwarzen Harmonie. Keiner unserer mutigen Politiker wird es einer besorgten Mutter im luftigen Kessel verbieten, ihren minderjährigen G8-Absolventen morgens in einem 250 PS starken SUV aus der Halbhöhe zu seinem Ökologiestudium an die Uni zu fahren. Und geradezu erniedrigend wäre es für viele Zeitgenossen, im Bio-Supermarkt aufzukreuzen, ohne ihren Porsche Cayenne draußen souverän im Parkverbot stehen zu haben.

Gut, ich kann leicht reden, weil ich mit Bus, Bahn und Schnür­schuhen unterwegs bin, sofern mich nicht irgendein Agenda-Alarm ins Taxi zwingt. Doch weiß ich im Moment nicht genau, wie Leute ohne Auto den Feinstaubalarm unterstützen könnten. Mit Blick auf unsere Umweltpolitiker nach dem Pupsen auch das Atmen einzustellen, lohnt sich nicht. Besser geeignet sind Straßenblockaden, unterstützt nicht von einer hirnverstaubten Bürgerwehr, sondern von einem alten Lied der Band Die Prinzen: „Jeder Popel fährt nen Opel / Jeder Affe fährt nen Ford / Jeder Blödmann fährt nen Porsche / Jeder Arsch nen Audi Sport / ­Jeder Spinner fährt nen Manta / Jeder ­Dödel ­Jaguar / Nur Genießer fahren Fahrrad / Und sind immer schneller da.“

Korrekterweise muss ich hinzufügen, dass die Leipziger Musikanten dieses Lied nach dem Berliner Mauerfall zunächst nicht dem Fahrrad, sondern dem VW-Käfer widmen wollten. Erst ihre kluge westdeutsche Produzentin Annette Humpe machte ihnen klar, dass der Käfer im Kapitalismus kalter Kaffee ist. Die schnelle geistige Wende hin zum Fahrrad zeugt insofern von weiser Voraussicht, als die VW-Manager etwas später weltweit als etwas unfeine Abgas-Gangster Schlagzeilen machten.

Überhaupt rate ich beim poetischen Umgang mit Auto-Typen zu historischer Vorsicht: Auf der großen Stuttgarter Kundgebung am Wochenende gegen Rassismus und Gewalt zitierte eine Rednerin ausführlich Henry Ford. Dieser nicht ganz unbekannte Auto-Tycoon revolutionierte einst die Industrie. Als Kriegsgewinnler allerdings war er auch ein leidenschaftlicher Unterstützer und ­glühender Anhänger der Nazi-Diktatur – und ein übler, geradezu wahnhafter Antisemit. Ford, eines von Hitlers großen Vorbildern, finanzierte Hetzschriften gegen die Juden und wurde von den Nazis als erster Amerikaner mit dem „Adlerschild des Deutschen Reiches“ geehrt.

Dass die Demo-Rednerin von einer der schillerndsten Figuren in der Geschichte des Kapitalismus außer einigen Kalendersprüchen nichts mitbekommen hat, wundert schon etwas: Sie ist auch Gewerkschafterin, in nicht unbedeutender Position.

Der Kampf um den aufrechten Gang hat seit jeher Haken und Ösen. Als Kamerad Schnürschuh auf den Feinstaubpisten des Kessels kann ich ein Lied davon singen.



 

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