Bauers DepeschenDienstag, 29. Dezember 2015, 1571. DepescheDer ersten FLANEURSALON im neuen Jahr geht am Mittwoch, 20. Januar, im Stadtarchiv Stuttgart in Cannstatt über die Bühne. Diese Institution zog vor fünf Jahren in ihr heutiges Gebäude im Bellingweg 21 im Neckarpark ein - und feiert jetzt mit uns ihr kleines Jubiläum. Flaneursalon-Gäste sind Eric Gauthier & Jens-Peter Abele, Eva Letica Padilla und Roland Baisch & Frank Wekenmann. Vorverkauf: KARTEN FÜR CANNSTATT. Telefon: 01805/700 733. Der Klick zum LIED DES TAGES Die aktuelle StN-Kolumne: VOM UNHEIL Im engen Stuttgarter Talkessel gibt es mehr Straßen, als man denkt: Würde ich mir jeden Tag eine von ihnen vornehmen, wäre ich bis zum Ende meiner Herumstiefel-Mission ziemlich genau zehn Jahre lang unterwegs. Auf der Strecke gäbe es viel zu klären: Warum sind seit 1938 so viele Straßen in Feuerbach nach österreichischen Städten benannt: Wien, Linz, Klagenfurt? Am 1. April 1938 besuchte Hitler Stuttgart, zwei Wochen zuvor war die Wehrmacht in Österreich einmarschiert. Vom „Anschluss“ ist Feuerbach bis heute gezeichnet. Ich wähle grob die Richtung Feuerbach, als ich an Weihnachten losziehe mit unbestimmtem Ziel. Vom Heimathafen im Westen Kurs auf die Halbhöhe zum Kräherwald. Unterwegs ein Blick auf die etwas besseren Häuser. Mit meinem Taschentelefon knipse ich ein Erinnerungsfoto von einer schönen Villa: Ihre Mauern am Eingang sind mit Stacheldraht dekoriert. Man kennt dieses Nato-Design vorzugsweise aus den Reichenvierteln latein- und südamerikanischer Städte. Eines Tages werden auch wir uns an Stacheldraht gewöhnen, in unseren Städten, wo die Mieten und Immobilienpreise explodieren. Kurzer Stopp an der Zeppelin-Aussichtsplatte, weiter zum Bismarckturm, vorbei an der Kleingärtner-Landschaft und der herrschaftlichen Tennisanlage des TC Weißenhof. Ankunft Killesberg. Im Einkaufsklotz der neuen Luxussiedlung stehen die Leute Schlange vor der Eisdiele Schloz, der Kalauer-Filiale des Restaurants Scholz. Sie unterhalten sich lachend, freuen sich, weil an Weihnachten die Sonne scheint wie im schönsten Frühling und überall Blumen und Bäume blühen. Irgendwer erzählt, in diesem Jahr seien die Störche erst gar nicht in den Süden abgeflogen. Kann ich verstehen. Weite Reisen sind mühsam, und nach der Ankunft siehst du vor lauter Stacheldraht die Sonne nicht. Auf den ersten Metern im Höhenpark erreicht man die Gedenkstätte für die jüdischen Stuttgarter Familien, die von den Nazis deportiert und in den Vernichtungslagern ermordet wurden. An diesem Ort, dem ehemaligen Sammellager der Opfer, steht innerhalb einer kreisförmig in den Boden gelegten Metallschiene ein Mahnmal von 1962 und seit 2013 ein zweiter Gedenkstein. Auf dem neuen ist zu lesen: „Schon 1950 fand auf dem Killesberg eine Gartenschau, 1961 eine Bundesgartenschau statt. Offiziell kam die Funktion als Sammellager 1941/42 nicht zur Sprache, obwohl die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit bereits Anstöße für einen Gedenkstein gegeben hatte.“ Als der erste Stein 1962 schließlich aufgestellt wurde, begnügte sich die Inschrift mit dem Hinweis auf die „Zeit des Unheils“. Die Täter, die Terrorherrschaft der Nazis werden mit keiner Silbe erwähnt. Wegschauen hat eine große Tradition in diesem Land. In diesem Zusammenhang empfehle ich ein Buch, das der Historiker Peter Poguntke in diesem Jahr herausgegeben hat: „Stuttgarter Lebenswege im Nationalsozialismus: Sieben Biografien“ (Südverlag, 176 Seiten, 60 Abbildungen, 29 Euro). 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs befassen sich verschiedene Autoren mit Tätern und Opfern der Nazi-Diktatur. Ein Kapitel gilt Karl Strölin, dem braunen Stuttgarter Stadtoberhaupt, ein anderes Friedrich Mussgay, dem letzten Chef der Gestapo (die Stuttgarter Gestapo-Zentrale war im ehemaligen Hotel Silber in der Dorotheenstraße untergebracht. 2017 – 72 Jahre nach dem Ende der Nazi-Diktatur – soll der geplante Gedenkort in diesem Gebäude endlich eröffnet werden). Das Buch behandelt die Gratwanderung „zwischen Anpassung und Widerstand“, es öffnet den Blick in die Abgründe des braunen Verbrechens. Porträtiert werden neben den bereits Genannten der Journalist und Zeitungsherausgeber Josef Eberle, der Jurist und Wirtschaftsexperte Hugo Bühler, der Nazi-Richter Hermann Albert Cuhorst, der in letzter Minute ins Exil geflüchtete Maler und Schriftsteller Fred Uhlman (aufgewachsen in der Hölderlinstraße 57). Der letzte Text des Buchs ist dem Widerstandskämpfer Hans Gasparitsch aus Ostheim gewidmet. Schon in jungen Jahren sperrten ihn die Nazis ins KZ; er überlebte und widmete sich bis zu seinem Tod 2002 dem Kampf gegen den Faschismus (in der Ostheimer Rotenbergstraße, gegenüber der Gaststätte Friedenau, haben 2014 junge Leute ihr selbstverwaltetes Stadtteilzentrum nach ihm benannt). Peter Poguntke schreibt über Gasparitsch: „Erst im Jahr 2000 erhielt er das Bundesverdienstkreuz, erst 1994 fanden seine Memoiren ‚Hanna, Kolka, Ast und andere. Stuttgarter Jugend gegen Hitler’ einen Verleger … Mögen die Memoiren aufgrund ihrer krassen Schwarz-Weiß-Malerei und Glorifizierung des Kommunismus auch quellenkritisch zu sehen sein, ein früheres Interesse hätten sie allemal verdient gehabt.“ Am Ende zitiert der Autor Gasparitschs Worte von der „zu großen Abneigung gegen das Erinnern an den falschen Weg, den die meisten Deutschen gegangen waren“. Die Abneigung gegen das Erinnern und das Ausblenden der Wahrheit kennen wir auch in der Gegenwart. In der Weihnachtsnacht legten Unbekannte in einer gerade entstehenden Flüchtlingsunterkunft in Schwäbisch Gmünd Feuer. Es heißt, ein „fremdenfeindlicher Hintergrund“ könne nicht ausgeschlossen werden. Unabhängig davon, wer die Schuldigen sind: Mit Floskeln wie „Fremdenfeindlichkeit“ und „Asylkritik“ verharmlosen Politiker, Polizisten und Juristen pausenlos Verbrechen, die von Tätern mit rechtsextremer und rassistischer Gesinnung begangen werden. Der SPD-Innenminister und Hobby-Feuerwehrmann Gall sagte nach dem Brand: „Dass selbst an Weihnachten eine solche Tat verübt wird, ist erbärmlich.“ Da fragt man sich: Sind terroristische Attacken von Fremdenhassern an Ostern, Pfingsten oder Fasching weniger erbärmlich? Es ist, wie es immer war: Allzu viele im deutschen Sicherheitsapparat, daran haben auch die Skandale nach den NSU-Morden nichts geändert, sind auf dem rechten Auge blind. So nimmt das Unheil seinen Lauf. BEITRÄGE schreiben im LESERSALON FRIENDLY FIRE: NACHDENKSEITEN INDYMEDIA LINKS UNTEN BLICK NACH RECHTS INDYMEDIA STÖRUNGSMELDER FlUEGEL TV RAILOMOTIVE EDITION TIAMAT BERLIN Bittermanns Fußball-Kolumne Blutgrätsche VINCENT KLINK KESSEL.TV GLANZ & ELEND |
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