Bauers Depeschen


Sonntag, 01. Februar 2015, 1413. Depesche



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AUSWÄRTSSIEG: SV Mainz II - Stuttgarter Kickers 2:3



LIEBE GÄSTE,

so langsam beginnt wieder der Arbeitsalltag. Bin wieder halbwegs gesund. Noch einmal der Hinweis: Der Flaneursalon am Samstag, 7. Februar, in der Uhlbacher Kelter ist ausverkauft. Unsere nächste Lieder- und Geschichtenshow geht in der schönen FRIEDENAU in Ostheim über die Bühne. Man erlebt den Abend in einem Wirtshaussaal, wie man ihn heute nur noch selten findet in der Stadt. Es spielen Stefan Hiss, Dacia Bridges & Gabriel Holz, Roland Baisch. Reservierungen im Restaurant und über die Telefonnummer: 07 11 / 2 62 69 24.



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LIED DES TAGES



TEXT DER REDE "STUTTGART FÜR ALLE"

Zum Abschluss des zweitägigen Städtebau-Symposiums "Stuttgart für alle", veranstaltet von den ArichtektInnen für K21, dem Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 und der Gemeinderatsfratktion SÖS/Linke Plus, habe ich am Samstag auf dem Stuttgarter Schillerplatz diese Rede gehalten:



SCHÖNEN GUTEN TAG auf dem Schillerplatz, willkommen bei unserem Open Air im schönen Monat Januar.

Meine Damen und Herren, an diesem Ort traut man sich ja kaum etwas zu sagen. Hier auf dem Platz steht der große Schiller und hört zu, wie wir uns abmühen, etwas Wahres über unsere kleine Welt zu sagen, über diese Stadt im Talkessel, in der gewisse Politiker dauernd tun, als sei diese kleine Stadt der Nabel der Welt. Mal der „Motor Deutschlands“, mal das „Herz Europas“. Als man das Denkmal hier am 8. Mai 1839, zum 34. Todestag Friedrich Schillers, aufstellte, demonstrierten 30 000 Bürgerinnen und Bürger ihre Solidarität mit dem toten Dichter. Stuttgart hatte damals 40 000 Einwohner, und wir sehen es mit Gelassenheit: Die Demonstrationsfreude hat etwas nachgelassen.

Allerdings wäre es auch keine Lösung, würden wir angesichts unserer von undemokratischem Geist beseelten Herrschenden wie der Dichter ausgerechnet nach Mannheim fliehen.

Liebe Gäste, bei einem Symposium im Rathaus, diesem berühmten Ort kreativer Umtriebe, hat man zwei Tage lang das Thema erörtert: „Stuttgart für alle – wohin entwickelt sich unsere Stadt?“ Und jetzt stehe ich hier und gebe Ihnen die Antwort: Ich weiß es nicht, wohin sich diese Stadt entwickelt, und ich weiß es deshalb nicht, weil ich kein Immobilien-Investor bin und den Leuten erzähle, beim Blick auf die Profite könne ich in die Zukunft sehen.

Die Herrschaften, die in dieser Stadt herumbohren und herumbauen, versuchen den Menschen fortwährend vorzumachen, allein ihnen gehöre die Zukunft und deshalb die ganze Stadt. Damit sind wir beim alltäglichen Größenwahn, der sich in diesem kleinen Talkessel mit seinen nicht mal 600 000 Einwohnern seit Jahrzehnten ausbreitet. Unsere Stadt im deutschen Südwesten ist nicht größer als Essen oder Dortmund, sie ist kleiner als Frankfurt, und dennoch müssen die Politiker dauernd so tun, als könnten sie konkurrieren mit München, Berlin, New York. Irgendwie vermisse ich die Warnung der Südstaaten-Amis an alle Möchtegerne: Don't mess with Texas. Leg dich nicht mit Texas an.

Der frühere Oberbürgermeister Schuster glaubte vor einigen Jahren noch, er sei so schlau und könne in den USA die halbe Stadt mit Gewinn verscherbeln. Man nannte diese illegalen Deals mit städtischen Einrichtungen Cross Border Leasing.

Der Realitätsverlust, der Hang zur Großmannssucht in dieser Stadt hat simple Ursachen: Die politischen Fortschritts- und Wachstumsapostel in ihrer Rolle als Lobbyisten der Immobilien-Manager labern in der Aussicht auf schnelle Gewinne fortwährend so unverforen von der Zukunft, dass sie von der Geschichte und von vor allem von der Gegenwart dieser Stadt überhaupt nichts mehr mitbekommen. Folgerichtig können sie nicht wissen, wo sie in Wahrheit leben. Nämlich zwischen Kaltental und Stammheim, zwischen Botnang und Hedelfingen – und nicht in Berlin oder an der Wall Street, wo einige gern wären, könnte man sie dort bloß gebrauchen. Ersatzweise spielen sie in der Provinz Monopoly live auf Kosten der Steuerzahler. Leider fehlt bei dieser Zockerei die wichtigste Monopoly-Spielregel, nämlich der Befehl: „Gehen Sie ins Gefängnis“.

Das eigentliche Problem der Stuttgarter Stadtentwicklung ist seit langem die Ignoranz der Entwickler gegenüber der eigenen Stadt. Seit mehr als zwanzig Jahren verfolge ich halbwegs neugierig die sogenannte Stadtwerbung, also die Luftballons, die man unter dem Stichwort „Image“ steigen lässt. Nie aber habe ich mitbekommen, dass sich mal einer der politischen Verantwortlichen in dieser Stadt auf den Hosenboden gesetzt und gesagt hat: So, wir erstellen jetzt einen Katalog über unsere Ressourcen. Wir sammeln, welche speziellen Dinge dieses Stuttgart zu bieten hat – außer Autofirmen und Automuseen. Wir tragen zusammen, auf welche Besonderheiten, auf welche charakteristischen Eigenschaften dieses Stadt stolz sein kann. Wir fangen bei der Karlshöhe an und hören beim Mineralwasser noch lange nicht auf.

Der Stuttgarter Maler Willi Baumeister, mit seiner Kunst schon in den zwanziger Jahren in New York vertreten, schrieb 1929: „Stuttgart gehört zu den schönsten Städten des Kontinents. Im Sommer ist‘s im Talkessel heiß wie im Süden. Die Vegetation gedeiht wie im Treibhaus. Der Schlossplatz erinnert an Paris, der Hasenberg an Florenz, der Weißenhof an Algier, dank einer sowohl südlichen als auch radikal modernen Bauweise . . . “

Nun wissen wir zwar, dass man nach dem Zweiten Weltkrieg im zerstörten Stuttgart einen weiteren Krieg geführt hat, nämlich einen städtebaulichen im alleinigen Interesse der Autoindustrie gegen die Bedürfnisse der Menschen. Und ich kann nicht beurteilen, wie viel Humor bei Baumeisters Liebeserklärung an Stuttgart im Spiel gewesen ist. Klar aber ist: Aus dieser Stadt, aus diesem Hasenberg-Florenz mit seiner topografischen Einzigartigkeit hätte man mit etwas Mut und Fantasie etwas ganz Eigenes machen können.

Es kann mir doch keiner erzählen, dass sich Geld bei der Entwicklung einer Stadt nur mit der Serienproduktion von austauschbarer Hässlichkeit verdienen lässt. Statt städtebauliche Lösungen zu suchen, die den Charakter Stuttgarts betonen, äffen die Provinzgeister im Rathaus andere Städte nach. Geplagt von ihrem Minderwertigkeitskomplex, suchen sie permanent Anschluss an eine Welt, zu der sie überhaupt nicht gehören. Diese Einfallslosigkeit, diese buchstäbliche Charakterlosigkeit im Umgang mit der eigenen Stadt, zeigt folgendes Beispiel: In der Halle des zerstörten Hauptbahnhofs lesen wir heute die schwachsinnige Marketing-Propaganda: „Faszination Verkehrsprojekt Stuttgart-Ulm“. Im Jahr 2003 stand ein hässlicher Würfel auf dem Schlossplatz mit der Aufschrift: „Faszination Olympia“. Damals bewarb sich Stuttgart um die Spiele, und ein Schultes namens Schuster brillierte rhetorisch mit dem Satz: „Paris, London, Moskau, New York – wir kommen!“ Scheiße, dachte ich, jetzt zettelt der Kerl den Dritten Weltkrieg an.

Derselbe Schuster ließ sich einst von einem Gangster den sogenannten Trump-Tower aufschwätzen, einen läppischen Potenzprotz-Bau, den erst die internationale Justiz und Polizei verhinderten. Derselbe Schuster und seine Gefolgschaft waren drauf und dran, auf die dubiosen Pläne von einem Tivoli-Park im Schlossgarten hereinzufallen. Mit dem übelsten Größenwahnprojekt kam er schließlich durch. Mit Stuttgart 21.

Dieser Tage habe ich mir auf Youtube noch einmal ein Video mit Bildern aus dem Jahr 1997 angesehen. Es geht um die sogenannte Bürgerbeteiligung im Fall Stuttgart 21. Schon damals hat man uns gelehrt, was die regierenden Rathauspolitiker unter Demokratie verstehen. „Diese Bürgerbeteiligung“, herrschte man die mitbestimmungswilligen Gäste der öffentlichen Veranstaltung an, „diese Bürgerbeteiligung hat klare Regeln.“

Von diesen Regeln können etliche Initiativen in dieser Stadt ein Lied singen. Wann immer sie von der Politik um Ideen gebeten wurden, etwa auf dem Hallschlag, durften sie am Ende entscheiden, ob man die Parkbank in ihrem Gentrifizierungs-Viertel grün oder rot anstreicht. Das, meine Damen und Herren, das ist die Demokratie, die sie meinen.

Und dagegen, liebe Freunde, müssen wir uns wehren, auch wenn der neue OB Kuhn, der große Mister Masterplan, gönnerhaft und grün verkündet, die lieben Bürgerinnen und Bürgerinnen dürften etwas zur Gestaltung des Rosensteinviertels beitragen. In Wahrheit, das lehrt uns Stuttgart 21, versucht man uns strategisch einzubinden, Mitsprache vorzutäuschen. Mitentscheiden durfte man bisher allerdings allein bei einer propagandistisch manipulierten Volksabstimmung.

Ganz typisch im Fall Rosensteinviertel ist beispielsweis, dass viele Politiker keinen Dunst haben von der Arbeit einer stattlichen Zahl international renommierter Künstler im Umfeld der im Viertel gelegenen Wagenhallen. Man müsste stolz sein auf dieses Künstler-Quartier. Hier ist etwas Eigenes gewachsen, so eigen und so wenig austauschbar wie der Neckar, den man in gewissen Rathauskreisen nur als industrielle Wasserstraße kennt, so wie den Stadtentwicklern die Wagenhallen allein als Location für Banker-Partys geläufig sind. Eine Stadt braucht Freiräume.

Meine Damen und Herren, Bürgerbeteiligung ist etwas anderes als ein Sandkastenspiel auf einer grünen Wiese der Stadt. Die Bürger haben definitiv nichts zu sagen, wenn die Investoren diese Stadt vereinnahmen, immer mehr Luxuswohnungen bauen und die Mieten hochtreiben. Die Bürger müssen es ertragen, wenn die Seelenlosigkeit der konfektionierten Investoren-Kästen um sich greift.

Schauen Sie sich doch das neue Stuttgart an. Die Glas- und Betonklötze im Europaviertel mit der Stadtbibliothek als kulturellem Alibi-Vehikel. Oder das sogenannte Gerber. Dieser Ausgeburt des Stuttgarter Einkaufkomplexes hat man zur Einbindung der Nachbarschaft einen falschen historischen Flurnamen verpasst, um den Marketing-Schwachsinn der Investoren zu unterstützen. Die werben mit der Floskel "Hier wächst Stuttgart zusammen". Sie faseln etwas von einer "Verbindung der südlichen Innenstadt mit der Einkaufsmeile Königstraße" und prahlen mit einer "urbanen Mischnutzung", weil es über ihrer Einkaufs- und Fressburg Luxuszimmer mit Aussicht gibt. Diese Gewäsch entspricht dem Geschwätz der Politiker, die zulassen, dass in Stuttgart, einem von Stadtautobahnen tranchierten Ort ohne Zentrum, ein zentrales Quartier mit Konsumklötzen zugestellt wird. So entsteht keine Stadt für alle. Das ist bedrohliche Politik nach dem Motto: ALLE RAUS AUS DIESER STADT, DIE NICHT GENÜGEND GELD HABEN!

Eingangs dieser Rede habe ich gesagt, man könne nicht in die Zukunft sehen. In dem Hollywood-Film „Gangster Squad“ spielt Sean Penn den Mobster Mickey Cohen, im Los Angeles der 1940er Jahre. Der Mafioso Cohen – nicht Kuhn – will die ganze Stadt. Als er, größenwahnsinnig und gierig nach mehr und mehr, ein weiteres Hindernis auf seinem Weg nach oben beseitigt hat, sagt er: „Das war kein Mord. Das war Fortschritt. Ich bin Fortschritt.“

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit, liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter. Adieu, Schiller, es geht weiter!



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