Bauers Depeschen


Donnerstag, 29. März 2012, 882. Depesche



FLANEURSALON IN OSTHEIM

Der nächste Flaneursalon findet am Mittwoch, 9. Mai, im schönen historischen Wirtshaussaal der Friedenau in der ehemaligen Arbeiterkolonie Stuttgart-Ostheim statt. Es spielen Stefan Hiss, Roland Baisch, Anja Binder & Jens-Peter Abele. 20 Uhr. Karten: 07 11 / 2 62 69 24.



SOUNDTRACK DES TAGES



Die aktuelle StN-Kolumne:



WINNETOU LEBT - GERETTET IN STUTTGART

Anfang der sechziger Jahre, die Studentenrevolte bahnte sich bereit an, hatten wir zu Hause in unserem Dorf noch keinen Fernseher. Ich war deshalb Tag und Nacht damit beschäftigt, Karl Mays Gesamtwerk mit dem Ziel zu studieren, dem Elend als Cowboy davonzureiten. Als „Der Schatz im Silbersee“ endlich auch im Kino unserer benachbarten Kleinstadt lief, ging mir auf, warum sich Lex Barker und Pierre Brice als Old Shatterhand und Winnetou nicht einen Deut von den Helden meiner Bücher unterschieden: Nie zuvor in der Filmgeschichte war ein so wahres Buch so wahrheitsgetreu verfilmt worden.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis mir der echte Shatterhand über den Weg laufen musste. Wenn nicht in Amerika, so an einem Eisenbahngleis an der Rems. Umso verblüffter war ich, als sich kaum ein halbes Jahrhundert später, im März 2011, nicht Karl Mays Westmann Shatterhand, sondern sein Orient-Kollege Kara Ben Nemsi im Internet bei mir meldete. Zu dieser Zeit, unzählige Western und dreißig Paar Cowboystiefel nach meiner Bettlektürenphase, hatte ich mich aus dem Karl-May-Geschäft bereits zurückgezogen. Erst als mir neulich ein Bahnhofs-Barbier in Istanbul sein Rasiermesser an die Kehle setzte, fiel mir Kara Ben Nemsi wieder ein.

Kaum zurück in Stuttgart, bat ich eine befreundete Fährtensucherin, seine Spur im Internet aufzunehmen. Rasch wurde sie fündig. Der Online-Kommentator „Kara Ben Nemsi Effendi“ entpuppte sich als Herr Werner Geilsdörfer. Nicht unbedingt als oberster Banditenjäger des Orients unterwegs, arbeitet er doch als Diplomverwaltungswirt im Stuttgarter Amt für Stadtplanung und Stadterneuerung, ein Job, der mir aus kriminalistischer Sicht nicht weniger gefährlich erscheint.

Keine Viertelstunde, nachdem ich in der Straßenbahn mit Herrn Geilsdörfer via Taschentelefon Kontakt aufgenommen hatte, sprach mich am Hans-im-Glück-Brunnen ein mir unbekannter Mann an, zufällig wollte er ins selbe Lokal wie ich. Es war Kara Ben Nemsi Effendi alias Herr Werner Geilsdörfer. Schnell waren wir uns einig, dass es Karl May in den Ewigen Jagdgründen gewesen sein musste, der kurz vor den Feierlichkeiten zu seinem 100. Todestag unser Treffen arrangiert hatte. Ohne Herrn Geilsdörfer, Mitglied der Karl-May-Gesellschaft, hätte ich nie von dieser globalen Beinahe-Katastrophe gehört: Womöglich gäbe es heute kein einzige Karl-May-Buch zu kaufen, hätte der Schriftsteller nicht am 27. Juli 1911 einige Stunden im Hotel Marquardt zu Stuttgart verbracht.

Das Hotel stand neben dem damaligen Hauptbahnhof in der Schlossstraße, heute Bolzstraße. Karl May war unterwegs von Überlingen nach Dresden; er kannte Stuttgart. Die Druckerei Felix Krais, Rotebühlstraße, hatte seine Bücher produziert, auch die ersten 33 Bände des heutigen Gesamtwerks, die im Verlag Friedrich Ernst Fehsenfeld herausgegeben wurden.

Karl May übernachtete regelmäßig im Marquardt. Über das international berühmte Haus, heute Heimat der Metropol-Kinos, hatte ich im März 2011 Anekdoten für einem Artikel gesammelt. Daraufhin meldete sich besagter Kara Ben Nemsi Effendi, um mir die Hintergründe von Karl Mays StuttgartBesuch zu schildern:

Im Sommer 1911, ein Dreivierteljahr vor seinem Tod, trifft sich der Schriftsteller, begleitet von seiner Frau Klara, im Hotel Marquardt mit dem jungen Juristen Dr. Euchar Albrecht Schmid. Der Anwalt hat Karl May zuvor bereits in der „Villa Shatterhand“ in Radebeul besucht, der von ihmverehrte Autor befindet sich in einer Krise.

Werner Geilsdörfers Bericht nach Prüfung einschlägiger Quellen: „Der bis 1899 beliebteste und meistgelesene deutsche Schriftsteller sah sich dreizehn Jahre lang einer dubiosen Verleumdungskampagne durch Presse und Prozesse ausgesetzt, die sein Ansehen bei der Leserschaft vernichteten und die Absatzzahlen seiner Bücher auf den Nullpunkt brachten. Sein Verleger Friedrich Ernst Fehsenfeld wollte sich von ihm distanzieren, und der Name Karl Mays wäre unter diesen Umständen heute für niemanden mehr ein Begriff. Bei jener Unterhaltung im Hotel Marquardt äußert der Schriftsteller gegenüber dem Juristen Dr. Schmid den Wunsch: ,Sie sollten mein Verleger werden.‘ Es war dieses Anliegen Karl Mays, das Dr. Schmid 1913 bewog, das große Unternehmerrisiko einzugehen und den Karl-May-Verlag in Radebeul (Dresden) zu gründen, einen Verlag für einen einzigen Autor. Sein Mut wurde belohnt. Die Kraft im Werk Karl Mays konnte durch die Verleumdungskampagne nicht völlig vernichtet werden, und Schmid diente als Katalysator, der der Nachwelt das Werk Karl Mays bis zum heutigen Tag erhalten hat.“

Aus dieser Sicht – im Gegensatz zu Karl Mays Kolportageromanen stützt sie sich auf Fakten – muss die Geschichte der Abenteurer mit deutschem Missionsanspruch neu geschrieben werden. Denn ohne das historische Marquardt-Meeting der Herren May und Schmid wäre Kara Ben Nemsi heute genauso vergessen wie die Blutsbrüderschaft von Shatterhand und Winnetou.

Daneben hätte die Kinogeschichte nicht nur auf denkwürdige Triumphe deutscher Schauspielkunst verzichten müssen. Sie wäre auch um viele krepierte Filmpferde und zahllose Tränen gerührter Kinobesucher ärmer. Erst der Hotel-Deal schuf die Basis für ein weiteres großes Stuttgarter Karl-May-Kapitel. Der deutsche Fernsehzuschauer ist ihm bis heute ausgesetzt.

Am 12. Dezember 1962, fünfzig Jahre nach dem Tod des Schriftstellers, wird im Lichtspieltheater Universum in der unteren Königstraße der erste Karl-May-Film uraufgeführt: „Der Schatz im Silbersee“, mit Lex Barker als Old Shatterhand, Pierre Brice als Winnetou, Ralf Wolter als Sam Hawkens; in weiteren Rollen Götz George, Karin Dor, Marianne Hoppe. Regie führt Harald Reinl, die grandiose Musik hat Martin Böttcher komponiert.

Im Universum fiebern eintausend Gäste der Weltpremiere entgegen. Das Zeitalter der Groupies ist bereits angebrochen, und als der Fahrer den neuen Superstar Pierre Brice zum Kino kutschiert, demolieren kulturell überhitzte weiße Schwestern die Limousine des roten Bruders, der vorzugsweise Französisch spricht.

Zum Glück lebt er noch und verkündet der Welt: Winnetou darf nicht sterben. Und falls doch, wird er in Stuttgart begraben.



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