Bauers Depeschen


Donnerstag, 17. Februar 2011, 674. Depesche



NOTIZEN

In meiner aktuellen StN-Kolumne (Freitag) erfährt man etwas über den einzigartigen Kabarettisten und Poetry-Meister Marc-Uwe Kling, 28. In Murr (Kreis LB) aufgewachsen, lebt er heute in Berlin - und begeistert das Publikum mit einem kommunistischen Känguru.

Unterdessen bin ich in Berlin, wo heute bei den Filmfestspielen auf dem Potsdamer Platz "Stuttgart 21 - Denk mal!" Premiere hat. Produzent des Dokumentarfilms ist der in Berlin lebende Stuttgarter Peter Rommel. Regie führen Lisa Sperling und Florian Kläger, zwei junge Filmstudierende aus Stuttgart/Hamburg. Ich werde auf dieser Seite berichten. - Am Sonntag, 27. Februar, ist der Film (bei dem ich ein wenig mitgewirkt habe) auch im Stuttgarter Theaterhaus zu sehen. Beginn: 11.30 Uhr.



Hier eine (neue) Geschichte aus der Altstadt:



DIE BALLHEIMS

Wenn es dunkel wurde in der Altstadt, kam der Schmoddre-Mann. Unauffällig, im Winter vermummt wie ein Polarforscher, stand er am Stuttgarter Leonhardsplatz und wies den Leuten den Weg ins Glück.

„Schmoddre“ kommt aus dem Wörterbuch der Rotlicht-Veteranen. Als die Herren noch eine Macht waren im Milieu, besaßen sie eine eigene Sprache, einen Fantasie-Slang, den sie sich irgendwo, das glaubten sie jedenfalls, aus dem Wortschatz der „Zigeuner“ zusammengeklaubt hatten. Man hielt den Zeigefinger unter die Pupille, zog den Augenring nach unten und sagte: „Schmoddre“. Das bedeutete ungefähr: „Schau, Junge“, „Mach die Augen auf, Alter“, „Sei wachsam, Kumpel“.

Der Schmoddre-Mann schob mitten im Nahverkehr am Leonhardsplatz Dienst als bezahlter Lotse. Er leitete Berufsspieler und blutige Anfänger in geheime Clubs, die Zocks. Die waren illegal oder geduldet, je nachdem. Meist waren die Spielsalons getarnt als gemeinnützige Vereine für Schach, Skat oder deutsch-arabische Kultur, je nachdem.

Wenn der Zocker außer einem guten Kartentisch eine günstige Uhr der Firma Rolex suchte, verlangte er nach einem „Osnik“; manche sagten auch „Osnak“. Wie es richtig hieß, wie man es schreibt, spielte keine Rolle. Diese Sprache ist nicht zum Schreiben erfunden worden. Sie diente als Code, um „Lobe“ (Kohle) zu machen. Männer, die Lobe machten, lebten meist von der „Kuppe“ ihrer Damen, vom Hurenlohn. Selbstverständlich hatten sie eine eigene Währung. Ein Heiermann war ein Fünfer, ein Dix ein Zehner, ein Pfund ein Zwanziger, ein Kilo ein Hunderter. Zehn Kilo waren ein Großer, ein Brauner oder ein Riese, je nachdem.

Es gab im Viertel auch Abzockläden, die sich nicht an die Spielregeln hielten. Dann kam ein Sondereinsatzkommando der Polizei und mischte die Karten neu. Frisch ausgehobene Läden wurden rasch umgestaltet, und manchmal widmete man sie weiterhin Gott und dem Glück. Schon kurz nach der Razzia in einer Spielhölle, ich erinnere mich, öffnete den ahnungslosen Zockern ein Mann mit langem Bart und weiten Gewändern. Der Laden war inzwischen ein muslimischer Gebetsraum.

Es klingt, als erzählte ich Dinge aus tiefer Vergangenheit. Unsinn. Der Schmoddre-Mann wurde noch Anfang des neuen Jahrtausends bei der Arbeit gesichtet, ehe er sich als Wirtschafter in ein Bordell zurückzog. Da war er schon über die Siebzig hinaus. Wie viele seiner Kollegen, unabhängig ihres Alters immer nur „Jungs“ genannt, hatte er Ende der fünfziger Jahre seine Karriere im Milieu begonnen.

Von den Millionen D-Mark, die im Lauf der Zeit durch seine Hände gingen, ist nichts geblieben. Darüber aber spricht man nicht. Als Master of the Universe trug man Seidenstrümpfe, Rex-Gildo-Hemden und Kanone und haderte nicht mit seinem Schicksal.

Im Gegensatz zu modernen, jugendwahnsinnigen Unternehmen setzt manches Bordell alter Schule noch heute auf erfahrenes Hardware-Personal. Wer sich an den ZDF-Vierteiler „Der große Bellheim“ von 1992 erinnert, kann sich in etwa vorstellen, wie es in einem Traditionshaus zugeht. Man denkt an clevere, reaktivierte Rentner wie die „Bellheim“-Helden Mario Adorf, Heinz Schubert, Will Quadflieg, Hans Korte. Anders als im Film allerdings geht im Puff mancher mit siebzig erstmals im Leben einer geregelten Arbeit nach. Entsprechend gelassen reagiert er auf die Forderung von Grünen-Politikerinnen, die Kondompflicht zu überwachen: Man steckt halt nicht drin. Nicht umsonst nennen Eingeweihte die Freudenhaus-Pensionäre in Anlehnung an das englische Wort für Cojones die großen Ballheims.

Die wichtigste Geschäftsgrundlage im Milieu war immer Diskretion. Deshalb werde ich hier nicht erzählen, wie viele Jahre Knast es einem der großen Ballheims in den Siebzigern eingebracht hat, in der Nähe des Berliner Kudamms in einen bewaffneten Branchenkrieg gegen persische Zuhälter zu ziehen. Tatort war die Bleibtreustraße, nach der Schießerei hieß sie Bleistreustraße. Veteranen wie der pensionierte Straßenkämpfer und der Schmoddre-Mann a. D. halten heute die subkulturellen Reste aus den alten Tagen zusammen. Man sollte sie dabei nicht stören und sich schon gar nicht mit ihrem Boss anlegen. Der hat die Siebzig auch schon überschritten, könnte aber noch manchem deutschen Profiboxer im Ring Probleme bereiten. Falsch wäre es auch, den Familiensinn im Hause Ballheim zu unterschätzen. Die Fürsorge erinnert, auch wenn man alten Männern nicht immer trauen sollte, an Uli Hoeneß und den FC Bayern.

Es gibt dennoch keinen Grund, den Dingen von früher nachzutrauern. Im Gegenteil. Hätte sich am Leonhardsplatz die frühere Rotlicht-Zentrale, der Brunnenwirt, nicht gastronomisch weiterentwickelt, wären die Relikte der Innenstadt heute um eine Oase schwäbischer Hausmannskost ärmer. Im Brunnenwirt gibt es Gerichte wie Gaisburger Marsch, saure Kutteln, Schinkennudeln – und alles schmeckt wie zu guten Lobe-Zeiten „einwandfrei“.

Nur noch ergraute Sexualmanager i. R. erinnern sich, dass vor Jahrzehnten in der geräumigsten Wirtshaus-Pissrinne des Kontinents ein Toter lag. Nicht einmal Herr Peter Müller, abwechslungsweise Pitt und Oskar genannt, könnte Genaues von dem Mord mit dem Messer berichten, obwohl der Mann mit der getönten Cartier-Brille und der feinen Breitling-Uhr gleich um die Ecke die schönste Resterampe der heruntergekommenen Rotlichtszene betreut. Weil er in relativ jungen Jahren relativ regelmäßig Vater wurde, hat man Herrn Müller schon früh nach dem Kater der Comicserie „Oskar der Familienvater “ benannt. Heute ist der potente Oskar über siebzig und leitet im Erdgeschoss des Bordells die mondäne Uhu-Bar. Die meiste Zeit seines Lebens hat er in Frankfurt und Städten mit ähnlich illustrem Bahnhofsviertel verbracht. Nach Stuttgart hat man ihn zurückgeholt, um in Bellheim-Manier die kleine Bar zu neuem Glanz zu führen. Der Laden, mit Trichter-Grammofon, Biedermeiersofa und Butzenscheiben dekoriert, sieht aus, als hätte ein Filmteam die Kulisse eines Plüschpuffpornos für gesetzte Bürger zurückgelassen. Oskar aber hat alles selber gemacht und zwischendurch in der Nachbarschaft einen „Bohnenkaffee“ genommen. Heute kommen Hinz und Kunz, junge Partygänger und spießige Großverdiener zu ihm, alle auf der Suche nach sagenumwobener Puff-Vergangenheit.

Man kann in seinen Laden nicht einfach reinstolpern wie ein daher-gelaufener Freier, der im Stockwerk darüber Entspannung für etwas Bares sucht. Jeder hat an die Tür zu klopfen und zu warten, ob Oskars Daumen rauf oder runter geht. Oskar ist nicht irgendwer. An der Wand sieht man ihn auf Fotos neben Jungs wie Muhammad Ali, und diese Bilder hat nicht etwa ein Fälscher verbrochen, auch wenn dieser Gedanke nahe liegt in einer Gegend, in der einst Konrad Kujau nach der Arbeit an den „Hitler-Tagebüchern“ die Champagnerkorken knallen ließ. Bei Oskar ist alles echt und falsch, so wahr wie Oskars unglaubliche Geschichten nur prüfen kann, wer dabei gewesen ist. Womöglich hat er sich ja wirklich wie tot auf die Autobahn gelegt, um sich einen Wagen für die Befreiung eines Kollegen aus dem Knast zu besorgen. Deshalb: Schmoddre, Jungs, wenn der große Ballheim kommt.

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