Bauers Depeschen


Donnerstag, 13. Januar 2011, 656. Depesche



STUTTGART STEHT AUF

K21: Unter dem Motto "Stuttgart steht auf" gibt es am Freitag, 21. Januar, im Waiblinger Kulturhaus Schwanen einen Abend gegen Stuttgarter 21 mit dem Filmemacher Hermann G. Abmayr, der Kabarettistin Christine Prayon, der Band Kwartet, dem Autor Wolfgang Schorlau und Gangolf Stocker von der Bürgerinitiative "Leben in Stuttgart“. Unsereins liest auch was vor und bringt den Musiker Zam Helga mit. Beginn: 19 Uhr.



Abmahnung: Im LESERSALON ist zurzeit weniger los als in der Lüneburger Heide. Wird dies das Jahr der Sprachlosen, der Selbstzufriedenen, der satten, faulen Säcke?



Die aktuelle KOLUMNE ("Chef's Imbissstation") steht bereits StN online. Hier mein Text zum vorläufigen Abschied eines Kabarettisten, erschienen in den StN:



ADIOS, NILS

An Weihnachten, als die Züge der Bahn im Schneechaos streikten, war er abgereist, nach Berlin. Als er Anfang des Jahres zurückkam, um seine Wohnung zu räumen, trafen wir uns zur Lagebesprechung im Café Stöckle im Westen der Stadt. Dort hat er fast vier Jahre lang gewohnt. Schade, dass er weg ist. Wir hätten ihn noch brauchen können, in Stuttgart.

Der Komiker Nils Heinrich, 1971 in Sangerhausen in Sachsen-Anhalt geboren, hat in seinem letzten Stuttgarter Jahr ein Hörbuch veröffentlicht: „Als ich ein FDJler war – Eine Kreisstadtjugend im Systemwechsel“. In den acht Beiträgen der CD fällt kein einziges Mal der Begriff FDJ. Man lernt stattdessen etwas über die Möglichkeit, mit der DDR-Vergangenheit umzugehen. Nils Heinrich berichtet aus dem Alltag. Im Alltag steckt Humor, und Humor ist nicht immer lustig.

In der deutschen Comedy-Szene, wo das Adjektiv „witzig“ immer öfter das Humorhandwerk ersetzt, ist einer wie Herr Heinrich ein Aufklärer. Er hat etwas gelernt. Beispielsweise Konditor, von 1988 an in der DDR, danach in Augsburg und Hannover. Man kann man sich gut vorstellen, wie dieser Kerl mit Bürstenhaarschnitt, aerodynamischer Brille und verstörtem Blick aus der DDR-Torte stolperte und sagte: Was ist denn hier los? Bin ich nicht mehr zum Eieraufschlagen im Eieraufschlagraum?

Nils Heinrich lebt nach seinem Auszug aus der DDR in Hannover, München, Berlin, Stuttgart. Er arbeitet zunächst in Bayern als Praktikant, Reporter, Autor für kleine Radio- und Fernsehsender. Als er 2000 nach Berlin kommt, wird er von den Lesebühnen infiziert, von den Zirkeln junger, wilder Schreiber, wie man sie von den Dichter-Wettkämpfen, den Poetry-Slams, kennt. Wenn Nils Heinrichs auf der Bühne steht, egal ob singend, lesend, frei vortragend, kommt immer der Geschichtenerzähler zum Vorschein, der Marktschreier mit Blick für die skurrilen Dinge. Erst die Geschichte, dann die Zuspitzung. Das unterscheidet ihn von den Buchstabenverdrehern der Witzig-Fraktion.

Im Café soll uns Nils Heinrich etwas über vier Jahre Stuttgart erzählen. Er sagt, als er von Berlin nach Stuttgart zurückgefahren sei, um seine Wohnung zu räumen, habe er bei der Einfahrt in den Bahnhof keine Wehmut gespürt. Das habe ihn stutzig gemacht. Er gehe ja nicht weg, weil er etwas gegen die Stadt habe. Seine Frau hat in Berlin einen besseren Job gefunden. Er konnte sich nicht richtig anfreunden mit Stuttgart, obwohl er hier zuletzt Dinge erlebt hat, die er sich nicht erträumt hatte. Die Sache mit dem Bahnhof. Der Massenprotest. Nils Heinrich hat sich als Künstler gegen Stuttgart 21 zunächst aus eher banalen Gründen engagiert: Als Kabarettist mit 200 Auftritten im Jahr bin ich Bahnkunde, sagt er, und die Bahn baut so viel Mist, dass sie sich erst einmal darum kümmern sollte. Als immer mehr Leute auf die Straße gingen, als der Bauzahn zugehängt war mit originellen Botschaften, fühlte er sich an die DDR erinnert: Die Menschen haben extrem kreatives Potenzial, sagt er, aber leider zu wenig Anlässe, um es freizusetzen.

Das Stuttgarter Leben hat ihn verwundert, er hat es nicht verurteilt. Nirgendwo, sagt er, sei es so schwierig, Fahrrad zu fahren. Gerätselt hat er, weil er nie eine zerkratzte Straßenbahnscheibe sah. Kaputte Scheiben, sagt er, würden womöglich die vielen jungen Männer stören, die im Spiegelbild des Straßenbahnfensters checken, ob ihre Frisur sitzt. Und dann die vielen Staffeln der Stadt: Du musst ständig Treppen hoch, und wenn du endlich oben bist, stellst du fest, dass du die falsche Treppe genommen hast. Egal. Du bist oben, und von oben, sagt er, sieht Stuttgart großartig aus. Leider nur von oben. Stuttgarts Eigentümlichkeiten, die schwäbischen Befindlichkeiten sind inzwischen auch in seinen Bühnenshows ein Thema. Wer ein Herz hat, lacht.

Je länger wir reden, desto deutlicher wird: Nils Heinrich, das Kind der DDR, hat nicht die Art Heimat, die man als Rückzugsort definiert. Er ist von Ost nach West gegangen, durch die Mauer, von der viele seiner Kollegen nichts mehr wissen. Heute gehört er zum fahrenden Volk. Ein Künstler auf Eisenbahn-Tour, und wenn er von Stuttgart nach Berlin zieht, dann ist das für ihn kaum aufregender, als mal eben vom Bahnhof A zum Bahnhof B zu fahren. Der Rest ergibt sich.

Am Ende lässt man ihn mit der Gewissheit ziehen: Der Stuttgarter Bahnhof wird auch in Zukunft an seiner Strecke liegen. Und weil er in seinem Beruf als Komiker gut vorangekommen ist, werden wir ihm immer öfter auch im Fernsehen begegnen – im Mai erstmals im „Satiregipfel“ der ARD.

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