Bauers Depeschen


Freitag, 22. Oktober 2010, 603. Depesche



Nachtrag am Samstag: Kickers-Sieg beim KSC II - 1:0, eine Frage der letzten Ehre



Frisch am Freitagabend die aktuelle StN-Kolumne vom Samstag:



SCHEINWERFERDEMOKRATIE

Freitag, 22. Oktober 2010, Weltpremiere. Nach einem Spaziergang vom Berliner Platz zum Rathaus bin ich am Mittag mit meinem kleinen Computer im Café Scholz am Marktplatz eingekehrt. Im SWR-Fernsehen hatte man schon am Morgen Platz geschaffen für die Live-Übertragung der ersten Friedensverhandlung im Bürgerkrieg um Stuttgart 21: Gestrichen wurde „In aller Freundschaft“, eine Klinikserie.

Von der Lebensart „Fernsehen, bis der Arzt kommt“ bin ich abgerückt, seit man auch Fußballspiele wie Saloniki gegen Leverkusen und VfB gegen Getafe überträgt. Das ist schlimmer als „Kickers TV“ aus Degerloch. Nachdem sich das Deutsche Sportfernsehen (DSF) in Sport 1 umbenannt hat, ist ein Titel frei geworden: DSF, Deutsches Schlichtungsfernsehen.

Im Café gibt es Erbsensuppe. Erbsensuppe erinnert mich an Großstadt, an Berlin. In der Nähe des Zoopalastes gab es mal einen Imbissbuden-Betreiber mit Gespür fürs Wesentliche. Nach jeder schärferen Nacht habe ich bei ihm zum Frühstück Erbsensuppe bestellt. Die rutschte gut und heiß durch den Schlund, nährte langfristig und schmeckte so scheußlich, dass man bald einen Drink brauchte.

Um zehn hatte ich meinen Fernseher eingeschaltet, gespannt auf Heiner Geißlers Auftritt in der ersten Folge der neuen Schlichtungsserie unter dem Arbeitsttitel „In alter Feindschaft“. Herr Geißler, der philosophisch geprägte Moderator, macht seine Sache unbeirrbar – präziser als die lebenden Sprechblasen der Talk-Branche. Zu meiner Freude geht er auch wie eh und je über die feinsinnige Worthülsenbrücke „nicht wahr“. Er sagt: NICHT wahr.

Das Deutsche Schlichtungsfernsehen wurde erfunden, weil viele Stuttgarter glauben, erbärmlich oder falsch über den geplanten Tiefbahnhof und die Zerstörung des bestehenden informiert zu werden. Man hat viel über das „Kommunikationsdesaster“ geredet und schließlich beim Klinik-Fernsehen um Erste Hilfe gebeten. Fernsehen gilt Politikern noch immer als wahre Realität, auch wenn junge Menschen nicht mal mehr im Streckverband Fernsehen schauen. Politiker halten Fernsehen für etwas Demokratisches, seit sich das Fernsehen dem Politikerniveau untergeordnet hat. Und weil die angeblich demokratische Legitimierung von Großprojekten dem Bürger als Täuschungsmanöver erscheint, hat man in Stuttgart einen Trick erfunden: Die Scheindemokratie wird durch die Scheinwerferdemokratie ersetzt.

Ohnehin geht es in den Reden der Politiker, wie nach der Wasserwerferschlacht im Schlossgarten, immer nur um „Bilder“. Nicht die Wahrheit – die „Bilder“ sind hässlich. Sogar Public Viewing gibt es in der Scheinwerferdemokratie. Der Begriff Public Viewing, von Marketingfritzen für Fußballübertragungen verhunzt, passt wie die Faust aufs Auge; bekanntlich handelt es sich um die englische Bezeichnung für die öffentliche Aufbahrung von Leichen. Jetzt versucht Herr Geißler, die Leichen im Keller der S-21-Planer auszugraben. Das ist, nicht wahr, ein harter Job.

Öffentliches Fernsehen gab es am Freitag im Club Schocken und im Treffpunkt Rotebühlplatz, wegen seiner Stammheimähnlichen Innenarchitektur auch Rotebühl-Bau genannt. Als ich um elf dort eintraf, lief die Optikermesse „Besser sehen“ bereits auf Hochtouren; vor der S-21-Leinwand aber saßen exakt sieben Damen.

Sieben ist die mythische Zahl der Schlichtungsshow. Jeweils sieben Kandidaten aus dem Pro- und Contra-Lager werden für die Friedensverhandlungen aufgeboten. Vielleicht hat der alte Fuchs Geißler die Zahl in Erinnerung an „Die Glorreichen Sieben“ gewählt, um positiv klingende Schlagzeilen einzufahren. „Die Glorreichen Sieben“ hören sich entschieden besser an als „Das dreckige Dutzend“ oder „Drei glorreiche Halunken“, zumal neben Schuster und Mappus auch Gönner, die glorreiche Halunkin, sitzt.

Bevor ich im Scholz am Fenster mit Aussicht auf vier Landesbankfahnen und einen der überall herumstehenden Werbeständer für die nächste Pro-21-Demo Posten bezog, war ich in der Stadt herumgelaufen. Es ist klar wie Erbsensuppe: Die Rathaus-Show macht die Leute nicht kränker als eine Mull- und Müllserie im SWR oder VfB vs. Getafe im Restfernsehen. Aber sie taugt nicht, wie Herr Geißler sagt, zur Aufklärung im Kant’schen Sinne, nämlich als Anregung zum selbstständigen Denken.

Vielmehr dachte ich an den geplanten Eisenbahnüberfall auf der Strecke von Stuttgart nach Ulm, schaltete mein Internetfernsehen aus und startete die DVD mit dem "Todeszug nach Yuma". Da geht es um die Wahrheit. Der Rest ist Fernsehen.

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