Bauers Depeschen


Montag, 12. Januar 2009, 273. Depesche



DER HOCHSEILARTIST



Ich habe mich gefreut damals, als ich gehört habe, der berühmte Artist Johan Traber, ein gebürtiger Stuttgarter, wolle in einem Auto auf zwei Stahlseilen zur Spitze des Fernsehturms hochfahren. Es hätte nach meinem Geschmack nicht unbedingt in einem Smart sein müssen. Eine Frage der Würde, aber ich schluckte die Kröte. Die Show stieg am Himmelfahrtstag, ich wünschte dem Kollegen Traber noch viele Jahre auf Erden und tauchte ab in die Vergangenheit.

Ursprünglich wollte ich selbst Hochseilartist werden. Eines Tages, als ich sechs Jahre alt war, kam eine Akrobatentruppe ins Dorf. In unserem katholischen Kaff gab es einen Marktplatz; das Wort Marktplatz war eine großspurige Bezeichnung für diesen Schandfleck. Wahrscheinlich wird mir morgen der Bürgermeister schreiben, heute sei alles besser, aber jetzt ist es zu spät.

Jedenfalls kamen Artisten ins Dorf, Motorradfahrer, die auf Hochseilen fuhren. Künstler dieser Branche galten damals als zwielichtig. Vor der Ankunft der Artisten empfahl man allen Christen, die Wäsche von den Seilen zu nehmen und Schmuck und ledige Frauen wegzuschließen. Ich verstand das nicht. Ich war klein und hungrig, Hochseilartisten waren Boten aus der großen Welt, auch wenn ich nie zuvor welche gesehen hatte. Womöglich kamen sie aus Amerika wie die schwarzen Soldaten in der Kreisstadt.

Irgendwie schaffte ich es, aus dem Haus zu schleichen und die Vorstellung gegen das Verbot meiner protestantischen Eltern zu besuchen. Was die Artisten wirklich konnten, weiß ich heute nicht mehr. Es muss, ein paar verschwommene Bilder habe ich noch im Kopf, aufregend gewesen sein, als Männer samt Frauen auf Motorrädern das Dorf in der Luft überquerten, und ich war damals noch nicht so verkommen, mir einen Absturz zu wünschen.

Wie gesagt, viele exakte Bilder von diesem Ereignis habe ich nicht mehr vor Augen, ich kann mich an die lange Balancierstange erinnern, und es ärgert mich bis heute, dass ich nicht Artist geworden bin. Wenigstens parterre.

Nachdem ich die Luftshow gesehen hatte, ließ sie mich nicht mehr los. Ich musste einen Weg finden, auf einem Seil zu fahren.

Ungerecht war, dass ich kein Motorrad besaß, auch wenn es seinerzeit ungewöhnlich war, dass sechsjährige Jungs Motorräder besaßen. Ernesto Guevara hat früh auf einem Motorrad gesessen. Er wurde Revolutionär.

Ich besaß einen Roller. Ein Roller war anders gebaut als heute ein City-Roller, ein Kickboard. Er hatte zwei mit Luft aufgepumpte Gummireifen. Die Folge war, dass er oft und einsam im Schuppen stand, weil ein Reifen einen Platten hatte und niemand Zeit, ihn zu reparieren. Ich schon gar nicht.

Am Morgen, nachdem ich die Motorrad-Akrobaten gesehen hatte, ging mir ein Licht auf. Ich ging in den Schuppen. Es muss ein Wink des Schicksals gewesen sein. Die Reifen des Rollers waren platt. Ich holte den Roller aus dem Schuppen und begann, die Reifen von den Felgen zu lösen.

Das war eine Schweinearbeit. Man brauchte dazu einen großen Schraubenzieher, um ihn zwischen Felge, Schlauch und Mantel zu schieben. Dass bei dieser Methode die Reifen irreparabel kaputt gingen, war klar. Und Zweck der Übung.

Nach mehreren Stunden hatte ich die Reifen runter. Die Felgen lagen frei. Jetzt brauchte ich ein Seil. Ich klaute meiner Mutter eine Wäscheleine. Das Seil spannte ich zwischen den Pfosten eines Zauns und ein Eisentor auf dem Wäscheplatz neben dem benachbarten Güterbahnhof. Die Leine hing nicht ganz so hoch wie bei den Motorradakrobaten, ungefähr einen halben Meter über der Erde.

Als die Vorbereitungen erledigt waren, stellte ich den Roller mit den nackten Felgen auf das Seil. Jetzt musste ich nur noch auf den Roller kommen. Ich hielt ihn mit den Händen am Lenker fest und sprang aus dem Stand mit beiden Füßen auf das Trittbrett. Das war Akrobatik. Beinahe hätte ich an diesem Tag den Himmel gesehen. Doch dann spürte ich, wie der Traum von meiner Karierre als Hochseilartist zu Ende ging und das Leben begann. Ich hatte, und daran sollte ich später noch oft denken, die Balancierstange vergessen.

Als ich auf der Schnauze neben meinem Roller lag, roch ich das Gras unter der Wäschestange und beschloss, noch einmal von vorn anzufangen. Ich holte die Gummistiefel aus dem Schuppen und wurde Cowboy.



REKLAME:

- Nächster Flaneursalon: Mittwoch, 18. Februar 2009, Theater Rampe, Filderstraße 47, Stuttgart. Letzter gemeinsamer Auftritt von Ralf Groher & Stefan Hiss als LOS GIGANTES. Weitere Gäste: Dacia Bridges & Alex Scholpp. Beginn 20 Uhr. Karten 0711 / 6 20 09 09 - 16.

(In der Depesche vom 31. 12. 2008 erfahren Sie, was es mit dem schwimmenden Flaneursalon auf sich hat.)



- Kolumnen in den Stuttgarter Nachrichten:

www.stuttgarter-nachrichten.de/joebauer



Kontakt





 

 

Auswahl

27.08.2022

24.08.2022

22.08.2022
17.08.2022

14.08.2022

10.08.2022
07.08.2022

06.08.2022


Depeschen 2281 - 2310

Depeschen 2251 - 2280

Depeschen 2221 - 2250

Depeschen 2191 - 2220

Depeschen 2161 - 2190

Depeschen 2131 - 2160

Depeschen 2101 - 2130

Depeschen 2071 - 2100

Depeschen 2041 - 2070

Depeschen 2011 - 2040

Depeschen 1981 - 2010

Depeschen 1951 - 1980

Depeschen 1921 - 1950

Depeschen 1891 - 1920

Depeschen 1861 - 1890

Depeschen 1831 - 1860

Depeschen 1801 - 1830

Depeschen 1771 - 1800

Depeschen 1741 - 1770

Depeschen 1711 - 1740

Depeschen 1681 - 1710

Depeschen 1651 - 1680

Depeschen 1621 - 1650

Depeschen 1591 - 1620

Depeschen 1561 - 1590

Depeschen 1531 - 1560

Depeschen 1501 - 1530

Depeschen 1471 - 1500

Depeschen 1441 - 1470

Depeschen 1411 - 1440

Depeschen 1381 - 1410

Depeschen 1351 - 1380

Depeschen 1321 - 1350

Depeschen 1291 - 1320

Depeschen 1261 - 1290

Depeschen 1231 - 1260

Depeschen 1201 - 1230

Depeschen 1171 - 1200

Depeschen 1141 - 1170

Depeschen 1111 - 1140

Depeschen 1081 - 1110

Depeschen 1051 - 1080

Depeschen 1021 - 1050

Depeschen 991 - 1020

Depeschen 961 - 990

Depeschen 931 - 960

Depeschen 901 - 930

Depeschen 871 - 900

Depeschen 841 - 870

Depeschen 811 - 840

Depeschen 781 - 810

Depeschen 751 - 780

Depeschen 721 - 750

Depeschen 691 - 720

Depeschen 661 - 690

Depeschen 631 - 660

Depeschen 601 - 630

Depeschen 571 - 600

Depeschen 541 - 570

Depeschen 511 - 540

Depeschen 481 - 510

Depeschen 451 - 480

Depeschen 421 - 450

Depeschen 391 - 420

Depeschen 361 - 390

Depeschen 331 - 360

Depeschen 301 - 330

Depeschen 271 - 300

Depeschen 241 - 270

Depeschen 211 - 240

Depeschen 181 - 210

Depeschen 151 - 180

Depeschen 121 - 150

Depeschen 91 - 120

Depeschen 61 - 90

Depeschen 31 - 60

Depeschen 1 - 30




© 2007-2024 AD1 media ·