Bauers DepeschenDonnerstag, 31. Juli 2008, 198. DepescheRückblick auf eine stationäe Auszeit, es war im vergangenen Jahr: ZWEI MILLIMETER Ich saß auf meinem Krankenhausbett und hörte meinem Zimmernachbarn beim Telefonieren zu. Er sprach sehr laut in einem Dialekt, den auch ich, obwohl verschiedener Steinbruchdialekte mächtig, nicht immer verstehen konnte. Er telefonierte mit seiner Frau und erzählte, was er heute gegessen und wie er es verdaut habe. Seine Frau, das konnte ich hören, fragte ihn, ob es ihm besser geschmeckt und ob er besser verdaut habe als bei ihr zu Hause. Nein, nein, sagte er. Ich wusste, dass er log. Erst am Mittag hatte er mir gesagt, dass ihm das Krankenhaus mit einem großen Apfelstrudel als Hauptspeise die größte Freude seines Lebens bereitet habe. Ich hasste in diesen Tagen Gespräche über Essen. Man hatte mich an einen Schlauch gehängt und auf Nulldiät gesetzt. Das ging sieben Tage so. Der Mann referierte nach dem Frühstück, nach dem Mittagessen, nach dem Abendbrot am Telefon über die Kunst der Krankenhausköche und sein Problem, die Produkte der Köche zu verdauen. Mir lief dabei das Wasser im Mund zusammen. Zwar steckte ich mir jedes Mal, wenn mein Zimmernachbar telefonierte, sofort Stöpsel in die Ohren und hörte Bob Dylan. Gegen das Organ meines Zimmernachbarn aber hatte Bobby Dylan keine Chance. Wenn mein Zimmernachbar 45 Minuten über das Essen und seinen Stuhlgang gesprochen und nebenbei bemerkt hatte, dass er seiner Lieblingsschwester fünf Euro Trinkgeld zu geben gedenke, beendete er das Telefonat mit dem Satz: „I muaß jetzt gruabe.“ Was er damit meinte, erschloss sich mir zuerst nicht. Erst im Lauf der Zeit kam ich dahinter. Kaum hatte er die Drohung „I muaß jetzt gruabe“ ausgestoßen, begann er laut zu schnarchen. Der Begriff „gruabe“ schien mir von dem Wort Grube abgeleitet. Gruaba hieß pennen, und wenn mein Zimmernachbar eine Weile gruabte, schob ich, unterstützt von seiner Lieblingsschwester, mein Krankenbett samt Infusionsständer hinaus auf den Flur. Dort schnarchte niemand, und das Klappern der Birkenstockschuhe an den flinken Füßen der Lieblingsschwester störte mich nicht. Ich fühlte mich bei ihr geborgen. Wenn mein Zimmernachbar nicht telefonierte, was selten vorkam, fragte ich ihn schamlos aus. Ich erfuhr, dass er bis zu seiner Rente der örtlichen Bauernbank seines Dorfes vorgestanden hatte. Er war so zum wichtigsten Mann hinter dem Bürgermeister aufgestiegen. „Dann haben Sie ja eine Banklehre gemacht“, sagte ich, nicht ohne Neid. Ach was, sagte er, Landwirt habe er gelernt. Das Bankgeschäft habe ihm seit jeher im Blut gelegen. Nach dem Krieg habe er erfolgreich Handel getrieben, mit Kohlen, mit Getreide, mit Gemüse, mit allem. Er habe mit den Tschechen gehandelt, mit den Polen, mit der ganzen Welt. Und bis zum heutigen Tag habe seine Bank ihre Eigenständigkeit behalten. „Respekt“, sagte ich, „Sie haben es sich redlich verdient, heute in Frieden zu gruabe.“ Dann kam der Tag, an dem sich alles änderte. Die Telefonate übers Essen wurden seltener. Der ehemalige Chef der Bauernbank begann mich als Gesprächspartner zu akzeptieren. „Stellen Sie sich vor“, sagte er, „vor zwei Wochen kam abends um halb zehn ein Mann zu mir und hat sich auf mein Bett gesetzt. Ich wollte gerade gruabe. Der Mann hat eine Tasche bei sich gehabt, wie ein Handwerker, stellen Sie sich das vor. Er hat einen Zweimillimeterbohrer aus der Tasche geholt, hundertprozentig einen Zweimillimeterbohrer, ich kenne mich da aus.“ Der Fall begann mich zu interessieren. „Der Mann hat mir ein Loch in der Kopf gebohrt“, sagte mein Zimmernachbar. „Wie“, sagte ich, „einfach so? Er hat Ihnen ein Loch mit zwei Millimetern Durchmesser in den Kopf gebohrt?“ „Ja“, sagte der Mann, „ich habe überhaupt nichts gespürt.“ Im Krankenhaus, das wusste ich, ereignen sich merkwürdige Geschichten. Krankenhäuser sind längst außer Kontrolle. Aber noch nie hatte ich von einem Mann gehört, dem ein anderer Mann abends um halbzehn ein Loch in den Kopf gebohrt hätte. „Er hat es gemacht“, sagte der frühere Chef der Bauernbank, „ er hat mir ein Loch in den Kopf gebohrt, damit das Wasser rauslaufen kann. So wahr ich hier sitze.“ „Das verstehe ich nicht“, sagte ich, „hatten Sie einen Wasserkopf?“ „Nein“, sagte mein Zimmernachbar, „jedes Mal wenn ich in meine Garage gegangen bin, bin ich mit meinem Kopf gegen die linke Wand geknallt. Immer gegen die linke Wand. Ich konnte das Gleichgewicht nicht mehr halten.“ „Und jetzt?“, fragte ich. „haben Sie Ihren Linksdrall kuriert? „Ja“, sagte er. „Man hat durch das Loch das Wasser rauslaufen lassen, einen Haufen Wasser, und jetzt kann ich wieder gerade laufen.“ „Und wer hat das Wasser rausgelassen?“, wollte ich wissen. „Ja, der Mann mit dem Zweimillimeterbohrer“, sagte mein Zimmernachbar, „das war ein Arzt. Der hat nicht ausgesehen wie ein Arzt.“ „Ja“, sagte ich, „das kann vorkommen. Sie sehen auch nicht aus wie ein Bankdirektor.“ „Nein“, sagte er, und er lachte so laut, als würde er mit seiner Frau telefonieren. „Ja“, sagte er, „ich bin ein Bauer.“ „Das war ein Spezialarzt“, sagte ich, „es gibt nicht viele Ärzte, die mit einem Zweimillimeterbohrer ein Loch in einen Kopf bohren können.“ „Ja“, sagte mein Zimmernachbar, „das war ein Spezialarzt, ich habe überhaupt nichts gespürt.“ In diesem Moment klingelte das Telefon. Ich griff automatisch nach Bob Dylan. Mein Zimmernachbar nahm den Hörer ab, verzichtete dann aber auf jede Bemerkung über den Krankenhauskoch und die Verdauung. Er brüllte so laut ins Telefon, wie ich ihn noch nie hatte brüllen hören. Er habe jetzt keine Zeit zum Telefonieren, jetzt nicht. Das käme überhaupt nicht in Frage, auf gar keinen Fall. Dann legte er krachend auf. Ich war mir sicher, dass er mit seiner Frau telefoniert hatte. „Sehr vernünftig“, sagte ich, „Das war ein anstrengender Tag für Sie. Erholen Sie sich. Sie müssen jetzt gruaba.“ „Nein“, sagte er und griff sich an den Kopf, „jetzt muss i brunza.“ Mein Zimmernachbar wankte mit deutlichem Linksdrall Richtung Klo. Sekunden später glaubte ich das Kreischen eines Bohrers zu hören. Ich rannte auf den Flur und schrie um Hilfe. Meinen Zimmernachbarn habe ich nie mehr gesehen. Kolumnen in den Stuttgarter Nachrichten: www.stuttgarter-nachrichten.de/joebauer - Nächster Stuttgart-Termin: Zehn Jahre Flaneursalon am Dienstag, 14. Oktober, im Stuttgarter Theaterhaus. Die Jubiläumsshow mit Los Gigantes, Michael Gaedt & Michael Schulig, Dacia Bridges & Alex Scholpp. „Kontakt“ |
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