Bauers DepeschenSamstag, 20. Mai 2017, 1794. DepescheNACHTRAG Klassenerhalt. Beiträge schreiben im LESERSALON Hört die Signale! MUSIK ZUM TAG DIE AKTUELLE STN-KOLUMNE: Da es bei der geneigten Leserschaft immer wieder zu Missverständnissen kommt, weise ich heute noch mal darauf hin: Bei Texten mit der Überzeile "Die aktuelle StN-Kolumne" handelt es sich um Beiträge aus meiner mehrfach wöchentlich erscheinenden Stuttgarter-Nachrichten-Kolumne "Joe Bauer in der Stadt" - und nicht um Blog-Einträge. Bitte sehr: FLUCHT INS BLAUE Es könnte unruhig werden in unserer kleinen Gemeinde, wenn der VfB an diesem Sonntag Weltmeister wird. Als Platz des Triumphs hat der Verein für Bewegungsspiele den Cannstatter Wasen gewählt. Der Wasen ist im Rathaus als offizieller Stadtteil mit null Einwohnern registriert und symbolisiert das ewige Elend Cannstatts: Dieser schöne Bezirk mit seinen 70 000 internationalen Bürgerinnen und Bürgern wird in Stuttgart und drum herum in aller Regel nur als Rummelplatz wahrgenommen. Und der liebenswerte Neckar als Pissoir missbraucht. Um sicher zu sein vor den Gefühlsentgleisungen weiter Kreise der Bevölkerung, werde ich am Wochenende dem Lauf des Neckars folgen und nach Heidelberg ins Exil gehen. Für diesen Ausflug in die Freiheit habe ich mich spontan entschieden, als mir wieder mal Mark Twains „Bummel durch Europa“ aus meinem Regal entgegenpurzelte. Darin lese ich oft, in jüngster Zeit erst recht, weil Europa ein großes Thema ist und das Buch des amerikanischen Schriftstellers gewitzt und aufschlussreich. Auch im 19. Jahrhundert war Europa ein viel diskutiertes und schwer umkämpftes Kapitel: „Und durch Europa brechen wir der Freiheit eine Gasse“, schrieb 1841 der große Stuttgarter Dichter und Revolutionär Georg Herwegh. Demnächst werden aufrechte Europäer seinen 200. Geburtstag feiern: Herwegh wurde am 31. Mai 1817 geboren, wahrscheinlich in der Hospitalstraße. Zuletzt, vor seiner Flucht aus Stuttgart, wohnte er in der Friedrichstraße 10. Er starb 1875 in Lichtenthal/Baden-Baden. Im April 1878 kommt Mark Twain nach Europa und besucht auch Heidelberg. Er residiert im Schlosshotel und widmet der Stadt und dem Neckar später etliche Buchseiten voller Begeisterung: „Das Schloss blickt hinunter auf die dichtgedrängte Stadt mit ihren brauen Dächern; und von der Stadt überspannen zwei malerische alte Brücken den Fluss (...) Ich habe noch niemals eine Aussicht genossen, die einen so stillen und beglückenden Zauber besessen hätte wie diese“, heißt es im zweiten Kapitel seines „Bummel“-Buchs (Diogenes-Verlag). Ausführlich beschäftigt er sich auch mit den Studenten, schon damals eine multikulturelle Gesellschaft: „Natürlich waren die meisten Studenten Deutsche, aber es gab sehr viele Vertreter anderer Länder. Sie stammten aus allen Ecken des Erdballs – denn die Ausbildung ist billig in Heidelberg und der Lebensunterhalt auch.“ Demnach hatte die Jugend der Welt hierzulande nicht wie heute gegen Studiengebühren für Nichteuropäer zu kämpfen. Mark Twain berichtet auch von Zwängen, die durchaus an die Gegenwart erinnern: „Es wäre ein Irrtum anzunehmen, dass der leichtlebige, vergnügungssüchtige Student einen leeren Kopf umherträge. Er hat neun Jahre auf dem Gymnasium unter einem System verbracht, das ihm keinerlei Freiheit gewährte, sondern ihn unerbittlich zwang, wie ein Sklave zu arbeiten.“ Auf Reiseportalen im Internet findet man die Geschichte, Mark Twain habe mit Freude Heidelberger Heidelbeeren gegessen, auch im Kuchen, was ihn literarisch sehr inspiriert habe. Tatsächlich hat er seinen Huckleberry nach der amerikanischen Heidelbeere getauft – allerdings wurden „Die Abenteuer des Tom Sawyer“ mit dem Anarcho-Helden Huck Finn schon zwei Jahre vor der Europa-Tournee veröffentlicht. Neulich habe ich gehört, beim SWR gebe es die Idee für einen Dokumentarfilm über Mark Twain in Heidelberg. Wäre eine feine Sache. Der Schriftsteller hat die Stadt auch auf dem Wasser angesteuert und uns darüber betörende Zeilen über einen – in Stuttgart so gut wie unbekannten – Fluss hinterlassen: „Deutschland ist im Sommer der Gipfel der Schönheit, aber niemand hat das höchste Ausmaß dieser sanften und friedvollen Schönheit begriffen, wirklich wahrgenommen und genossen, der nicht auf einem Floß den Neckar hinabgefahren ist (…) Wir glitten still zwischen den grünen, duftenden Ufern dahin, mit einem Gefühl der Freude und Zufriedenheit, die immerzu wuchs.“ Nach der Schwärmerei über Heidelberg und meiner morgendlichen Hotelbuchung aber ist es Zeit, mit der ganzen Wahrheit über meine Stadtflucht rauszurücken. Auf meiner Eisenbahnfahrt nach Heidelberg werde ich einen kleinen Umweg machen: An diesem Samstag treten die Stuttgarter Kickers bei der zweiten Mannschaft von Hoffenheim an. Das 3500 Seelen zählende Dorf, ein Ortsteil von Sinsheim im Kraichgau, liegt nur – Twain hätte gesagt – „einen Büchsenschuss“ von Heidelberg entfernt. So werde ich vor dem Vergnügen meiner heiligen Pflicht als blauer Sympathisant nachkommen. In diesem Spiel kämpfen die Kickers um ihr Bleiberecht in der vierten Liga. Das schicksalhafte Duell in der Diaspora berührt in unserer Stadt nur wenige, weil der VfB ja am Sonntag Weltmeister wird. Wenn zigtausend furchtlos-treue Dorftouristen aus nah und fern auf dem Wasen eine gewaltiges Fest feiern und die ganze Stadt in Beschlag nehmen werden, bin ich längst weg – wenn schon nicht als Europa-, so doch als Schlachtenbummler (um diesen Pazifististenbegriff mal wieder aufzugreifen). Mir ist eingefallen, dass ich im Sommer 2008 schon mal in Hoffenheim war, gleich mehrere Tag als Kundschafter. Da hatte die TSG 1899, der vom SAP-Gründer Dietmar Hopp finanzierte Landverein, gerade den Aufstieg in die erste Liga geschafft. Hoffenheim wurde weltberühmt, denn so etwas hatte es noch nie gegeben: Ein Dorfclub zog unter der Regie des Backnanger Trainers Ralf Rangnick in die Bundesliga ein. In der Mannschaft spielte damals Vedad Ibisevic, ein Junge mit bewegender, viel beachteter Biografie. Mit seiner Familie hatte ihn einst die Flucht vor dem Bosnienkrieg über die Schweiz zu Verwandten in die USA geführt. 2004 kam er als Fußballprofi und amerikanischer Staatsbürger zurück nach Europa, stürmte von 2007 bis 2011 für Hoffenheim, ehe er zum VfB und 2015 zu Hertha BSC Berlin wechselte. Noch 2003 hatte er für die St. Louis Strikers Tore erzielt – für Stuttgarts Partnerstadt am Mississippi, der Heimat Mark Twains. Damit dürfte ich mal wieder bewiesen haben, wie klein die Welt ist. Und jetzt auf nach Heidelberg. |
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