Bauers Depeschen


Samstag, 28. Januar 2017, 1732. Depesche

 

BETR.: FLANEURSALON IM SIEGLEHAUS

Liebe Gäste, der Vorverkauf für unseren Flaneursalon am Montag, 20. Februar, im Kleinen Saal des Gustav-Siegle-Hauses läuft überraschend gut. Vermutlich herrscht eine gesunde Neugier auf diesen etwas vergessenen Auftrittsort. Auf die Bühne gehen diesmal Stefan Hiss, Timo Brunke, Marie Louise & Zura Dzagnidze. Hier gibt es Karten: online EASY TICKET und telefonisch 0711/2555555. Oder auch über das Kartenbüro der Stuttgarter Philharmoniker: 0711/21688990.

Bereits am Donnerstag, 9. Februar, sind wir im Esslinger Kabarett der Galgenstricke - mit Zam Helga, Ella Estrella Tischa und Timo Brunke.

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LIED DES TAGES



Die aktuelle StN-Kolumne:



KOSCHER

Wieder mal dient mir der Zufall als Fremdenführer in der eigenen Stadt. Um mir eine Fahrkarte für einen Ausflug zu kaufen, gehe ich zum Bahnhof. Hätte ich mir das Billett, wie heute üblich, mit dem Taschentelefon besorgt, wäre mir etwas entgangen: Lange beobachte ich fasziniert, wie die Leute in der Bahnhofshalle achtlos über den am Fußboden angebrachten Ruhmesstern für Carl Laemmle hasten.

Nach dem Vorbild von Hollywoods Walk of Fame hat man dem legendären Film­produzenten bei uns ein Zeichen gesetzt: Neben dem Fünfzack mit seinem Namen wirbt ein Plakat auf die derzeitige Aus­stellung im Haus der Geschichte: „Carl Laemmle presents – Ein jüdischer Schwabe erfindet Hollywood“.

Laemmle, vor 150 Jahren im oberschwäbischen Laupheim geboren, wandert mit 17 Jahren in die USA aus, gründet 1912 in Los Angeles die Universal Studios und steigt zu einem der großen Pioniere des Hollywood-Films auf.

Berühmte Landsleute der Vergangenheit sind zurzeit stark präsent in der Stadt: Das Landesmuseum zeigt noch bis zum 23. April die Ausstellung „Die Schwaben. Zwischen Mythos und Marke“. Die gierige Suche nach den menschlichen Zügen eines angeblichen Regionalcharakters hat mal der Tübinger Kabarettist Uli Keuler, einer der wenigen ernst zu nehmenden Mundartkomiker, auf den Punkt gebracht; gefragt, wie er den „typischen Schwaben“ beschreiben würde, sagte er: „Häufige Merkmale sind, dass er zwei Augen hat, eine Nase, einen Mund, zwei Ohren, dann unterschiedliche Geschlechtsmerkmale. Genaueres kann ich nicht sagen.“

Carl Laemmle (ursprünglich Karl Lämmle) blieb Laupheim zeitlebens nicht nur emotional, sondern auch mit großzügigen Spenden verbunden. In der Nazi-Diktatur setzte er sich für die Juden seiner Heimat ein und bewahrte viele vor der Ermordung.

Es war kurz vor den Holocaust-Gedenkfeiern, am 27. Januar, dem Befreiungstag von Auschwitz, als ich an Carl Laemmles Stern im Bahnhof stand und mir Gedanken machte. Erfahrungsgemäß werden einem die Ausmaße des Nazi­-Terrors am besten durch die Konfrontation von historischen Verbrechen mit den bis heute sichtbaren Tatorten bewusst. Die Stolpersteine auf den Gehwegen vor den ehemaligen Wohnungen ermordeter Juden beispielsweise machen die Geschichte intensiver erfahrbar als Politikerreden. Es sind die allgegenwärtigen Orte der Schreckens, die eine emotionale Nähe zum Unfassbaren herstellen – und gleichzeitig den Blick auf das Treiben der Rechten und der Nazis von heute öffnen.

So gesehen ist es nach wie vor erbärmlich, dass die einstige Stuttgarter Gestapo­-Zentrale, das Hotel Silber in der Dorotheenstraße, trotz des großen Bürgerengagements immer noch nicht als Gedenk und Lernort eröffnet ist. Dieses Gefängnis, in dem deutsche Beamte Menschen folterten und ermordeten, steht in der Nachbarschaft von Breuninger, einer Firma, dessen einstiger Chef Alfred Breuninger als Nazi-Funktionär vom Hitler-Regime wirtschaftlich profitierte. Stadtpolitiker, die heute Gedenkreden halten, konnten sich vor Jahren nicht dazu durchringen, der Aus­einandersetzung mit dem Faschismus von gestern und heute das komplette Gebäude zu widmen. Das Ergebnis war ein fauler Kompromiss: Ein Stockwerk, einst Schauplatz der Gestapo-Verbrechen, soll in diesem Haus kommerziell vermietet werden. So wird der Geist eines historischen Orts zerstört statt konserviert.

Diese Woche besuchte ich, wieder zufällig, das Restaurant Teamim in der Synagoge im Hospitalviertel. Ein Mitglied meines vierköpfigen Männervereins zur Erkundung von Lokalen in der Stadt hatte diesen Ort ausgewählt. Der Eingangsbereich der Synagoge mit Garten in der Hospitalstraße wird zurzeit umgebaut. Ins Gebäude gelangt man über die Rückseite, Firnhaberstraße. Für den Besuch im tagsüber geöffneten Restaurant muss man sich anmelden, der Sicherheitsdienst prüft bei der Ankunft in der Synagoge die Personalausweise.

Im Lokal selbst herrscht wohltuende Gastfreundschaft. Die Brüder Aurel und Richard Jäger, die beiden Köche, bereiten koscheres Essen zu. Die Zutaten kommen aus Frankreich und Israel. Wir essen Gemüsesuppe und Couscous, beides ausgesprochen gut. Die Brüder erzählen, dass es für das Lokal Umzugspläne innerhalb der Synagoge gebe. Jetzt erst fällt mir auf, dass ich keine Juden in Stuttgart näher kenne und nehme mir vor, bald wieder zu kommen, um mehr zu erfahren.

Die heutige Synagoge wurde am 13. Mai 1952 eingeweiht – vor 65 Jahren, was für ein kleines Jubiläumsritual in diesem Jahr sprechen dürfte. Auch die erste Stuttgarter Synagoge, 1861 eröffnet, stand an der Hospitalstraße. Beim Novemberpogrom 1938 brannte der Nazi-Mob unter dem Gejohle der Schaulustigen aus der Stadt das Haus nieder. Es wurde vollkommen zerstört, wie auch die Synagoge in Cannstatt.

Nach Kriegsende waren von einst fast 5000 jüdischen Mitbürgern nur noch 24 in der Stadt. Sie waren aus glücklichen Zufällen nicht deportiert worden oder hatten in Verstecken überlebt. Schon bald aber, bis zum Sommer 1946, kamen unerwartet viele nach Stuttgart: Die US-Besatzungszone wurde zentrale Aufnahmestelle für Juden aus Osteuropa, vor allem aus Polen. Die Amerikaner führten diese Flüchtlinge als „Displaced Persons“ (DP) – als Heimatlose, als Menschen am falschen Platz.

Von 1946 bis 1948 werden in der Reinsburgstraße zwei jüdische Zentren mit Betraum eingerichtet, provisorische Synagogen. Am 29. März 1946 stürmen mehr als 200 Stuttgarter Schutzpolizisten und Kriminalbeamte das DP-Camp im Westen der Stadt, um nach Schwarzmarktwaren zu suchen. Bei der Razzia beginnen Polizisten zu schießen. Der polnische Jude Samuel Danziger geht zu Boden. Er hat Auschwitz überlebt und wie durch ein Wunder einen Tag vor der Polizeiaktion seine Frau und seine zwei Töchter in der Reinsburgstraße wiedergefunden. Als die Amerikaner die Razzia abbrechen, ist es zu spät. Der Schuss aus einer deutschen Polizeiwaffe hat Samuel Danziger in den Kopf getroffen und getötet. Der Schuldige wird nie ermittelt, der Vorfall in der Stuttgarter Geschichtsschreibung lange vertuscht.



 

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